Staatsromane
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Affenvolk, das Weiberreich, der Staat der Philo-
sophen, die Regierung der Jugendlichen, das
Land der Geldgierigen, die in ihren Kirchen das
Einmaleins singen und alle jene terrae paradoxae,
durch die uns der dänische Erasmus geleitet, sind
eine der köstlichsten und unterhaltendsten Satiren,
die je geschrieben. Aber wir sehen davon ab. Die
St. gestalten sich um und neue Formen der
Träume vom besten Staate tauchen im Zeitalter
vor der französischen Revolution auf. Da ist
Morelly, der erst seinen „Schiffbruch der
schwimmenden Inseln“ 1753 veröffentlicht und
gleich darauf den Code de la nature erscheinen läßt,
der in 117 festformulierten Artikeln ein öffentlich-
und privatrechtliches Gesetzouch des Zukunfts-
staats enthält, und der unzweifelhaft Babeuf
und seine Genossen stark beeinflußt hat. Die Nie-
derwerfung der Verschwörung Babeufs bezeichnet
den Anfang vom Ende der französischen Revolu-
tion, ihre Entdeckung trieb das ruhebedürftige
und ordnungssehnsüchtige Frankreich dem napoleo-
nischen Despotismus in die Arme, und diese Er-
eignisse bilden zugleich die beste tatsächliche Kritik
der Utopien. Verschiedene St. dieser Zeit zeigen
neue Gesichtspunkte. Stanislaus Leszczyncki in
einem entretien d’un Européen avec un insulaire
de Dumocala ist viel praktischer, betont militärische
Reformen. Mercier 1772 ist der erste, der
sein Ideal nicht an einen phantastischen Ort ver-
legt, sondern ein Zukunftsbild (I’an 2440) entwirft,
das zum Teil schon jetzt erfüllt ist, und in dem
Staat von Felizien (1794) finden wir eine
unter Kantischer Philosophie gereifte Auffassung:
„ein Muster der vollkommensten Freiheit unter
der unbedingten Herrschaft der Gesetze“.
## 6. Mit dem 19. Jahrhundert tritt eine
gewaltige Wandlung ein, die Entwicklung des
Sozialismus zur Wissenschaft, „was man ge-
träumt das wird zur Wirklichkeit“: Robert Owen,
Graf Saint Simon, Fourier schaffen Systeme,
ja der Saint Simonismus ist eine „Religion“ ge-
nannt worden. Immerhin möchte man die Vor-
schläge von Fourier, die er in der bes. Zeitschrift
Le Phalansteèere seit 1836 vertrat, doch zu den
Träumen vom besten Staate rechnen, ganz und
gar auf die Gemeinschaft der Arbeit und der Le-
bensweise gegründet. An den Systemen dieser
drei Kommunisten nährte sich Etienne Ca-
bet, der Mann, der der Kette der St. ein neues
Glied einfügte. Platons Staat ist ein Typus der
aristokratischen antiken Anschauungsweise, Morus
Utopie zeigt freieren Geist und reformierte Welt-
anschauung, Campanellas Sonnenstaat ist das
Ideal der sterbenden Scholastik, Morelly plant
radikal den Umschwung: Cabets Reise nach Ikarien
1842 ist für den Genußmenschen eines neuen Zeit-
alters, in dem der Fleischkonsum um 100% pro
Kopf steigt, geschrieben; es ist einer der glänzendst
geschriebenen St., der ein Wonnebild irdischer
Herrlichkeit vorzaubert. „Brüderlichkeit" und
„allgemeines Glück“ „alle für jeden“ und „jeder
für alle“, das ist das Motto aus dem alles folgt.
Es ist das Dorado der radikalen Demokratie, in
der alle gleich sind und wo alles dem Staat ge-
hört, wo es nur eine offizielle Zeitung usw.
gibt. Dieses herrliche Land Ikarien ist mit Be-
geisterung geschildert und die hinreißende Dar-
stellung Cabets mag der Grund gewesen sein, daß
sast ein halbes Jahrhundert kein neuer St. er-
schien. Vielleicht lag es auch daran, daß Cabets Ver-
such der Verwirklichung jämmerlich gescheitert ist.
§ 7. Verwirklichungsversuche. Cabet hat ver-
sucht im Staate Texas ein Neu-JIkarien
zu gründen. Nach einigen Erfolgen 1850—55
wurde er selbst ausgestoßen und das Staatswesen
ist verschwunden. In Amerika sind noch mehrfach
Versuche gemacht worden, kommunistische Ge-
meinwesen zu gründen. Aber alle diese Versuche
sind mißlungen (Semler, Gesch. d. Sozialismus
und Kommunismus in Nordamerika, 1880).
Allenfalls gelang es noch auf religiöser Grundlage
Gemeinwesen zu schaffen die ähnliches erstrebten
(Ronsdorf bei Elberfeld, Korntal in Württemberg),
doch lange nicht so schroff. Die krassesten Verwirk-
lichungsversuche der St. waren das Reich der
Wiedertäufer in Münster, wo toller und voller
Kommunismus und Polygamie herrschten, jenes
„Königreich Zion“, dessen Ordnung am
2. 1. 1535 erlassen und dessen Unordnung am
25. 6. 1535 mit Waffengewalt zerstört wurde;
und ein Jahrhundert später das eigentümliche
Gebäude deschhristlich-sozialen Staats der Jefsu-
iten in Paraguay, unter dem Namen der
„Reduktionen“ bekannt. Dieser künstliche Staats-
bau, der weder den Staatszweck verfolgte noch
einem Missionszweck im höheren Sinne diente, son-
dern nur ein wirtschaftliches Ziel hatte, dem
Jesuitenorden Ueberschüsse zuzuführen, brach zu-
sammen und sein Zusammenbruch, besonders von
dem portugiesischen Aufklärungsminister Pombal
betrieben, spielt eine merkwürdige Rolle bei der Auf-
hebung des Jesuitenordens. Nichts ist übrig geblie-
ben von diesem Staate, der das ganze Leben zen-
tralisierte und mechanisch konstruierte, der die In-
dividualitäten vernichtete; fast gleichzeitig mit dem
Sturze dieser einförmigen Städteringe in Süd-
amerika erfolgte im Norden der neuen Welt die Er-
hebung des nordamerikanischen Freistaats, der die
Freiheit in Recht und Wirtschaft zur Geltung brachte.
8. Neueste Erscheinungen. Das letzte Men-
schenalter hat uns wiederum eine Menge zum
Teil sehr unterhaltender St. gebracht. Verwun-
derlich ist, daß gerade Amerika, wo so viele kleine
und große Versuche ideale Gemeinwesen zu schaf-
fen vergeblich gemacht wurden, uns den ersten und
gelungensten dieser Romane beschert hat, das ist
Bellamy, Rückolick a. d. J. 2000 auf 1887 (Re-
clam 2661/2)1). Hier werden vor allem wirtschaft-
liche und soziale Umgestaltungen geschildert, und
nun folgen in schneller Reihe allerlei St.: Wil-
brandt, Fridr. Osts Erlebnisse i. d. Welt Bellamys,
1891, E. Müller, Rückblick aus 2037 auf 2000, 1891,
Michaelis, Blick i. d. Zukunft (Recl. 2800), Gre-
gorovius, Der Himmel auf Erden, die z. T.
Bellamy ad absurckum führen. Etwas sensatio-
neller zum Teil mit politischem Anhauch sind die
Jesuitenromane Ph. Laicus, Etwas später, 1891
(Herstellung Polens und des Kirchenstaats), und
Ignatius Donelly, Cäsar Denksäule, 1892, beson-
ders interessant, da es für 1992 eine Verwendung
der Luftschiffe zu Post= und Kriegszwecken schil-
dert, wie sie bereits heute gut möglich ist. Hert-
kas, Freiland, 1890, entwirft ein soziales Zu-
— —
1) Dazu William Morris, News from Nowhere 1891;
serer H. G. Wells, a modern Utopils 1905. In Anlehnung
an Jules Verne (voyage au centre de Ila terre. 1864) Edw.
Bulwer, the coming racc. 1871 (anonym). (D. H.)