Full text: Wörterbuch des Deutschen Staats- und Verwaltungsrechts. Dritter Band. O bis Z. (3)

  
Taubstumme 
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im großen und ganzen mit denen zur Bekämp- 
fung der Blindheit IV1: Fürsorge für rechtzeitige 
ärztliche Hilfe und ausreichende Versorgung, be- 
sonders der ländlichen Gegenden, mit tüchtigen, 
gut ausgebildeten Hebammen, Hebung des all- 
gemeinen Wohlstandes und der sonstigen sozialen 
Verhältnisse, Bekämpfung der Kurpfuscherei und 
vor allem auch der Gleichgültigkeit der ärmeren 
Volksschichten gegen die Gefahr der Ohrenerkran- 
kungen durch fortgesetzte Belehrung. 
Die Durchführung aller dieser Maßnahmen er- 
scheint um so notwendiger, als trotz der Fort- 
schritte der medizinischen Wissenschaft auf dem 
Gebiete der Ohrenheilkunde und trotz der Ein- 
führung dieses Zweiges der Heilkunde als beson- 
deres Prüfungsfach eine wesentliche Abnahme 
der Taubstummheit noch nicht erzielt ist; denn im 
Gegensatz zu der Blindheit, die an und für sich schon 
seltener beobachtet wird (das Verhältnis ist wie 
3: 2) und in den letzten Jahrzehnten jedenfalls 
eine erhebliche Abnahme erfahren hat (30—4000), 
ist sie nur um etwa 10% gesunken (im Deutschen 
Reich von 9,6 auf 8,6, in Preußen von 9,9 auf 
9,00/00). Uebrigens ist die Taubstummheit beim 
männlichen Geschlecht häufiger als beim weiblichen 
(9,5:7,8%00) und am häufigsten in den Alters- 
klassen vom 6.—15. Lebensjahre (10,0—13,0%000 
II. Die Taubstummenfürsorge hat weit 
später als die Blindenfürsorge, deren erste An- 
fänge bis zum Jahre 1210 zurückgehen, eingesetzt; 
denn abgesehen von ganz vereinzelt gebliebenen 
Bildungsversuchen im 15., 16. und 17. Jahrhun- 
dert (Agricola (1443—14851, von den Spa- 
niern Pedro de Ponce (I 1584] und 
Bonet (11620]), den Engländern Bulver 
[1648) und Wallis (1616—1703| sowie von 
dem Schweizer Ammann I1669—1724,)) ist 
erst den Bemühungen des französischen Abbé de 
I'’Epée (1712—1789) und des deutschen Lehrers 
Samuel Heinicke (1729—1780) die Einfüh- 
rung einer sachgemäßen und systematischen Aus- 
bildung der Taubstummen sowie die Errichtung 
der dazu erforderlichen Unterrichts= und Er- 
ziehungsanstalten zu verdanken. Diese Ausbildung 
erfolgte zunächst nach zwei völlig voneinander ge- 
trennten Methoden: der „französischen“, 
die auf der Gebärden= oder Zeichen- 
sprache aufgebaut ist, und der „ deutschen", 
die den Zweck verfolgt, den Taubstummen durch 
die sog. Lautsprache sowohl fließend sprechen 
und lesen zu lehren, als ihn zu befähigen, die Worte 
des Sprechenden vom Munde abzulesen. Anfangs 
fand die französische Methode mehr Anklang, da 
sie eine schnellere und leichtere Ausbildung er- 
möglicht; allmählich hat aber die deutsche Me- 
thode immer mehr Anhänger gefunden und sich 
jetzt fast in allen Kulturstaaten eingebürgert, 
nachdem sie schon im Jahre 1878 und 1880 von 
dem I. und II. internationalen Taubstummenkon- 
greß als beste Unterrichtsmethode anerkannt ist, 
„da sie die Taubstummen dem Verkehr mit der 
fremden Welt wiedergibt und ihnen ein besseres 
Eindringen in den Geist der Sprache ermöglicht“. 
Die Gebärdensprache wird jetzt nur noch als 
Verständigungsmittel zwischen Lehrer und Schü- 
ler in dem ersten Unterrichtsjahre, in einigen 
Staaten auch noch als Unterrichtssprache bei 
schwachsinnigen Taubstummen benutzt, deren Zahl 
allerdings etwas höher als bei den Blinden ist, 
  
aber 6% nicht übersteigen dürfte (in Preußen 
waren z. B. von den im Jahre 1905 vorhandenen 
Taubstummen 5,30 gleichzeitig geistesschwach). 
Betreffs der Fürsorge für die sogenannten 
Taubstummenblinden und deren Aus- 
bildung J Blindenwesen Bd. I S 445. 
##3. Ansbildung und Anstalten. 
I. Der Unterricht und die Ausbil- 
dung der Taubstummen erfolgt ausschließlich 
in besonderen Anstalten, und zwar besteht 
jetzt in vielen Bundesstaaten für alle bildungs- 
fähigen Taubstummen Unterrichtszwang 
(in Preußen nach dem G v. 7. 8. 11, im Kgr. 
Sachsen nach dem Volksschul G v. 26. 4. 73, in 
Baden nach dem G v. 11. 8. 02, in Sachsen-Mei- 
ningen nach dem G v. 28. 5. 74 nebst Nachtrag 
v. 17. 11. 86 usw.); in denjenigen Bundesstaaten, 
wo ein solcher noch nicht vorgeschrieben ist, bieten 
die Gesetze über Fürsorgeerziehung (JI eine 
Handhabe zur Durchführung eines derartigen 
Unterrichtszwanges, allerdings nur dann, wenn 
die Voraussetzungen des 8 1666 BGB (Verhütung 
der Verwahrlosung) vorliegen. Infolge dieser ge- 
setlichen Bestimmungen hat die Zahl der in An- 
stalten untergebrachten schulpflichtigen Taubstum- 
men ständig zugenommen; nach einer durch Bek 
des RK v. 12. 12. 01 angeordneten fortlaufenden 
Statistik in Preußen z. B. von 4035 im Jahre 
1901 auf 5223 im Jahre 1912 = 24,4% ; nur 
443 nicht bildungsfähige taubstumme schulpflich- 
tige Kinder befanden sich 1912 noch außerhalb 
den Anstalten gegen 866 im Jahre 1903. 
Der Unterricht in den Taubstummenan- 
stalten umfaßt, abgesehen von dem speziellen 
Sprachunterricht (Artikulation, Ablesen der Worte, 
Sprechen, Schreiben, Lesen und Sprachlehre), alle 
Fächer der Volksschule. Als Beginn ist fast über- 
all das vollendete 7. Lebensjahr und als Bil- 
dungszeit ein Zeitraum von 8 Jahren vor- 
gesehen, der aber verlängert werden kann, wenn 
das Lehrziel noch nicht erreicht, aber Aussicht zu 
seiner Erreichung bei Fortsetzung des Unterrichts 
vorhanden ist. Der Unterricht hat überall das 
Ziel im Auge, den taubstummen Schülern die 
Lautsprache zur Denk= und Mitteilungsform zu 
machen; großer Wert wird außerdem auf den 
Turnunterricht sowie auf den Handfertigkeits- 
unterricht gelegt, um die Schüler schon für ihren 
späteren Beruf vorzubereiten (Stricken, Nähen, 
Flicken, Kochen, Waschen usw. bei Mädchen, 
Tischlerei, Buchbinderei, Schusterei, Schneiderei, 
Landwirtschaft usw. bei Knaben). In verschie- 
denen Bundesstaaten, z. B. in Preußen, in Sach- 
sen, werden den Handwerkern, denen die aus der 
Anstalt entlassenen Taubstummen in die Lehre 
gegeben werden, auch Prämien nach deren 
vollendeter, erfolgreicher Ausbildung gewährt. 
Ein Haupterfordernis für den Erfolg des Unter- 
richts ist, daß die Zahl der von einer Lehr- 
kraft zu unterrichtenden Kinder die Ziffer 10 
nicht übersteigt; in den deutschen Taubstummen= 
anstalten ist dies auch nirgends der Fall (das 
Verhältnis stellte sich z. B. im deutschen Reich im 
Jahre 1912 wie 1:9, in Preußen wie 1:8,23). 
Sehr zweckmäßig sind auch die in einzelnen Bun- 
desstaaten eingeführten Fortbildungsun- 
terrichte für schulentlassene Taubstumme, die 
einmal dazu dienen sollen, daß die Taubstummen 
das in den Anstalten Erlernte nicht wieder ver-
	        
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