Taubstumme
583
im großen und ganzen mit denen zur Bekämp-
fung der Blindheit IV1: Fürsorge für rechtzeitige
ärztliche Hilfe und ausreichende Versorgung, be-
sonders der ländlichen Gegenden, mit tüchtigen,
gut ausgebildeten Hebammen, Hebung des all-
gemeinen Wohlstandes und der sonstigen sozialen
Verhältnisse, Bekämpfung der Kurpfuscherei und
vor allem auch der Gleichgültigkeit der ärmeren
Volksschichten gegen die Gefahr der Ohrenerkran-
kungen durch fortgesetzte Belehrung.
Die Durchführung aller dieser Maßnahmen er-
scheint um so notwendiger, als trotz der Fort-
schritte der medizinischen Wissenschaft auf dem
Gebiete der Ohrenheilkunde und trotz der Ein-
führung dieses Zweiges der Heilkunde als beson-
deres Prüfungsfach eine wesentliche Abnahme
der Taubstummheit noch nicht erzielt ist; denn im
Gegensatz zu der Blindheit, die an und für sich schon
seltener beobachtet wird (das Verhältnis ist wie
3: 2) und in den letzten Jahrzehnten jedenfalls
eine erhebliche Abnahme erfahren hat (30—4000),
ist sie nur um etwa 10% gesunken (im Deutschen
Reich von 9,6 auf 8,6, in Preußen von 9,9 auf
9,00/00). Uebrigens ist die Taubstummheit beim
männlichen Geschlecht häufiger als beim weiblichen
(9,5:7,8%00) und am häufigsten in den Alters-
klassen vom 6.—15. Lebensjahre (10,0—13,0%000
II. Die Taubstummenfürsorge hat weit
später als die Blindenfürsorge, deren erste An-
fänge bis zum Jahre 1210 zurückgehen, eingesetzt;
denn abgesehen von ganz vereinzelt gebliebenen
Bildungsversuchen im 15., 16. und 17. Jahrhun-
dert (Agricola (1443—14851, von den Spa-
niern Pedro de Ponce (I 1584] und
Bonet (11620]), den Engländern Bulver
[1648) und Wallis (1616—1703| sowie von
dem Schweizer Ammann I1669—1724,)) ist
erst den Bemühungen des französischen Abbé de
I'’Epée (1712—1789) und des deutschen Lehrers
Samuel Heinicke (1729—1780) die Einfüh-
rung einer sachgemäßen und systematischen Aus-
bildung der Taubstummen sowie die Errichtung
der dazu erforderlichen Unterrichts= und Er-
ziehungsanstalten zu verdanken. Diese Ausbildung
erfolgte zunächst nach zwei völlig voneinander ge-
trennten Methoden: der „französischen“,
die auf der Gebärden= oder Zeichen-
sprache aufgebaut ist, und der „ deutschen",
die den Zweck verfolgt, den Taubstummen durch
die sog. Lautsprache sowohl fließend sprechen
und lesen zu lehren, als ihn zu befähigen, die Worte
des Sprechenden vom Munde abzulesen. Anfangs
fand die französische Methode mehr Anklang, da
sie eine schnellere und leichtere Ausbildung er-
möglicht; allmählich hat aber die deutsche Me-
thode immer mehr Anhänger gefunden und sich
jetzt fast in allen Kulturstaaten eingebürgert,
nachdem sie schon im Jahre 1878 und 1880 von
dem I. und II. internationalen Taubstummenkon-
greß als beste Unterrichtsmethode anerkannt ist,
„da sie die Taubstummen dem Verkehr mit der
fremden Welt wiedergibt und ihnen ein besseres
Eindringen in den Geist der Sprache ermöglicht“.
Die Gebärdensprache wird jetzt nur noch als
Verständigungsmittel zwischen Lehrer und Schü-
ler in dem ersten Unterrichtsjahre, in einigen
Staaten auch noch als Unterrichtssprache bei
schwachsinnigen Taubstummen benutzt, deren Zahl
allerdings etwas höher als bei den Blinden ist,
aber 6% nicht übersteigen dürfte (in Preußen
waren z. B. von den im Jahre 1905 vorhandenen
Taubstummen 5,30 gleichzeitig geistesschwach).
Betreffs der Fürsorge für die sogenannten
Taubstummenblinden und deren Aus-
bildung J Blindenwesen Bd. I S 445.
##3. Ansbildung und Anstalten.
I. Der Unterricht und die Ausbil-
dung der Taubstummen erfolgt ausschließlich
in besonderen Anstalten, und zwar besteht
jetzt in vielen Bundesstaaten für alle bildungs-
fähigen Taubstummen Unterrichtszwang
(in Preußen nach dem G v. 7. 8. 11, im Kgr.
Sachsen nach dem Volksschul G v. 26. 4. 73, in
Baden nach dem G v. 11. 8. 02, in Sachsen-Mei-
ningen nach dem G v. 28. 5. 74 nebst Nachtrag
v. 17. 11. 86 usw.); in denjenigen Bundesstaaten,
wo ein solcher noch nicht vorgeschrieben ist, bieten
die Gesetze über Fürsorgeerziehung (JI eine
Handhabe zur Durchführung eines derartigen
Unterrichtszwanges, allerdings nur dann, wenn
die Voraussetzungen des 8 1666 BGB (Verhütung
der Verwahrlosung) vorliegen. Infolge dieser ge-
setlichen Bestimmungen hat die Zahl der in An-
stalten untergebrachten schulpflichtigen Taubstum-
men ständig zugenommen; nach einer durch Bek
des RK v. 12. 12. 01 angeordneten fortlaufenden
Statistik in Preußen z. B. von 4035 im Jahre
1901 auf 5223 im Jahre 1912 = 24,4% ; nur
443 nicht bildungsfähige taubstumme schulpflich-
tige Kinder befanden sich 1912 noch außerhalb
den Anstalten gegen 866 im Jahre 1903.
Der Unterricht in den Taubstummenan-
stalten umfaßt, abgesehen von dem speziellen
Sprachunterricht (Artikulation, Ablesen der Worte,
Sprechen, Schreiben, Lesen und Sprachlehre), alle
Fächer der Volksschule. Als Beginn ist fast über-
all das vollendete 7. Lebensjahr und als Bil-
dungszeit ein Zeitraum von 8 Jahren vor-
gesehen, der aber verlängert werden kann, wenn
das Lehrziel noch nicht erreicht, aber Aussicht zu
seiner Erreichung bei Fortsetzung des Unterrichts
vorhanden ist. Der Unterricht hat überall das
Ziel im Auge, den taubstummen Schülern die
Lautsprache zur Denk= und Mitteilungsform zu
machen; großer Wert wird außerdem auf den
Turnunterricht sowie auf den Handfertigkeits-
unterricht gelegt, um die Schüler schon für ihren
späteren Beruf vorzubereiten (Stricken, Nähen,
Flicken, Kochen, Waschen usw. bei Mädchen,
Tischlerei, Buchbinderei, Schusterei, Schneiderei,
Landwirtschaft usw. bei Knaben). In verschie-
denen Bundesstaaten, z. B. in Preußen, in Sach-
sen, werden den Handwerkern, denen die aus der
Anstalt entlassenen Taubstummen in die Lehre
gegeben werden, auch Prämien nach deren
vollendeter, erfolgreicher Ausbildung gewährt.
Ein Haupterfordernis für den Erfolg des Unter-
richts ist, daß die Zahl der von einer Lehr-
kraft zu unterrichtenden Kinder die Ziffer 10
nicht übersteigt; in den deutschen Taubstummen=
anstalten ist dies auch nirgends der Fall (das
Verhältnis stellte sich z. B. im deutschen Reich im
Jahre 1912 wie 1:9, in Preußen wie 1:8,23).
Sehr zweckmäßig sind auch die in einzelnen Bun-
desstaaten eingeführten Fortbildungsun-
terrichte für schulentlassene Taubstumme, die
einmal dazu dienen sollen, daß die Taubstummen
das in den Anstalten Erlernte nicht wieder ver-