Full text: Wörterbuch des Deutschen Staats- und Verwaltungsrechts. Dritter Band. O bis Z. (3)

  
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Taubstumme 
  
gessen, und anderseits ihnen Gelegenheit zur 
weiteren, ihrer Befähigung entsprechenden Aus- 
bildung geben sollen. 
Jedensalls werren durch die jetzt allgemein übliche 
Unterrichts= und Ausbildungsmethode der Taubstummen 
höchst erfreuliche Erfolge erzielt, was sich auch aus der Tat- 
sache ergibt, daß von den im Jahre 1900 im Deutschen 
Reiche ortsanwesenden, unter 15 Jahre alten, nicht in An- 
stalten befindlichen Taubstummen (36 920 bei einer Ge- 
samtzahl von 48 750) 24 672 -66,8% einen selbständigen 
Erwerb hatten, und zwar von den männlichen 82,0% , von 
den weiblichen 48,7⅝%. In Preußen war diese BVerhältnis- 
zisser etwas höher (70,2%), dagegen in Bayern (63,4%), 
im Königr. Sachsen (65,8 ⅝%), in Württemberg (54,4 %), in 
Elsoß-Lothringen (52,3%⅝) 3. T. erheblich niedriger. Von 
den männlichen Taubstummen waren verhältnismäßig die 
meisten in der Landwirtschaft (26,4% ) und in der Beklei- 
dungeindustrie (23,0%) Tischlerei und Korbmacherei (je# 
8,2%) und im Bergwerke (3,1%) beschäftigt; von den 
weiblichen ebenfalls die meisten in der Landwirtschaft 
(20,3⅝) und Bekleidungsindustrie (16,7⅝%) sowie in häus- 
lichen Dienstleistungen (7, 80 /.) tätig, in der Textilindustrie 
und als Fabrikarbeiterinnen dagegen nur 1,5 und 1,0%. 
II. Die ersten Taubstummenunterrichts- 
und Erziehungsanstalten sind im 
Jahre 1760 in Paris von Abbé de l'Epée 
und in Edinburg von Braidwood einge- 
richtet. In Deutschland hat S. Heinicke we- 
nige Jahre später (1768) die erste Anstalt in 
Eppendorf bei Hamburg ins Leben gerufen; sie 
ist im Jahre 1778 auf Veranlassung des Kur- 
fürsten Friedrich August nach Leipzig 
verlegt. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts ent- 
standen dann weitere Anstalten, z. B. in Karls- 
ruhe (1783), Berlin (1788), in Mücchen (1798) 
usw. Zurzeit sind im Deutschen Reich 91 Taub- 
stummenanstalten für etwa 9000 Zöglinge vor- 
handen, davon entfallen auf Preußen: 47, Bayern: 
14, Sachsen: 3, Württemberg: 7, Baden: 3, 
Hessen: 2, Elsaß-Lothringen: 4 und auf die übrigen 
Bundesstaaten: 11. Von diesen Anstalten sind 71 
öffentlich (24 staatlich, 43 Provinzial-, Kreis- 
[Bayern] oder kommunalständische Anstalten, 
4 städtisch), 20 Privat= und Wohltätigkeitsan- 
stalten. Die Kgl. Taubstummenanstalt in Berlin 
dient gleichzeitig als Bildungsanstalt für Taub- 
stummenlehrer. Die Anstalten sind etwa zur 
Hälfte Internate und Externate; z. T. sind beide 
Systeme vereinigt. 
Die Errichtungs= und Unterhal- 
tungskosten der Anstalten werden, 
soweit sie öffentliche sind, vom Staate bezw. von 
den betreffenden Kommunalverbänden — in 
Preußen von den Provinzen auf Grund des Gv. 
8. 7. 75 — oder Städten (bei den städtischen 
Anstalten) getragen. Das meist recht niedrig be- 
messene Pflegegeld (2—400 Mk.) ist dagegen 
von den unterhaltungspflichtigen Angehörigen, 
bei Unbemittelten von den Orts= oder Land- 
armenverbänden zu tragen; im letzteren Falle 
werden jedoch meist vom Staate oder von den 
größeren Kommunalverbänden erhebliche Bei- 
hilfen — in Preußen von den Kreisen minde- 
stens zwei Drittel der Kosten (Gv. 7. 8. 11) — 
gewährt. 
Die Anstalten sind überall der Aufsicht 
der Schulaufsichtsbehörde unterstellt (in Preußen 
den Provinzialschulkollegien); ihr sonstiger Be- 
trieb ist durch besondere Reglements ge- 
  
regelt, die in Preußen von der zuständigen Pro- 
vinzialverwaltung, in den übrigen Bundesstaaten 
von der zuständigen Zentralinstanz erlassen wer- 
den; im Königreich Sachsen sind z. B. jetzt das 
Regl v. 16. 11. 02 und die Vorschriften v. 8. 3. 07 
maßgebend, in Württemberg die Bek v. 4. 1. 96 
us. In hygienischer Hinsicht sind 
in bezug auf den Bau und die Einrichtung der 
Anstalten die gleichen Anforderungen wie an die 
Volksschulen und Internate zu stellen. Eine 
der wichtigsten Forderungen ist die Anstellung 
eines die Ohrenheilkunde vollständig beherrschen- 
den Anstaltsarztes, da unter seiner sach- 
kundigen Ueberwachung und Behandlung der 
Schüler die sehr häufig noch vorhandenen Hörreste 
wesentlich gebessert werden können und min- 
destens ihr gänzlicher Verlust verhindert wird. 
In Preußen sind diese Anstaltsärzte wiederholt 
zu Fortbildungskursen einberufen worden (Min E 
v. 10. 7.00 und 2. 2. 03), eine Einrichtung, die 
allgemein eingeführt werden sollte. 
III. Für Taubstumme, denen es trotz genossener 
Ausbildung nicht gelingt, sich wirtschaftlich selb- 
ständig zu machen, sowie für solche Taubstummen, 
die infolge gleichzeitiger geistiger Defekte nicht 
bildungsfähig oder wegen anderer körperlicher 
Gebrechen dauernd hilfsbedürftig sind, hat man 
vielfach Taubstummenheime eingerich- 
tet, die meist den Taubstummenanstalten ange- 
gliedert und vorzugsweise von Wohltätigkeits- 
vereinen oder auf Grund von Stiftungen errichtet 
sind. Zurzeit sind im Deutschen Reich 17 derartige 
Taubstummenheime mit etwa 500 Plätzen vor- 
handen. 
8 4. Die rechtliche Stellung der Taubstummen. 
Ebenso wie die Blinden waren auch die Taub- 
stummen sowohl im Altertum, als im Mittelalter 
bis in die Neuzeit hinein in ihrer Rechtsfähigkeit 
außerordentlich beschränkt und genossen so gut 
wie keinen Rechtsschutz. Erst mit den großen Fort- 
schritten, die ihre Ausbildung namentlich in den 
beiden letzten Jahrhunderten erfahren hat, sind 
auch ihre privat= und öffentlich-rechtlichen Be- 
schränkungen mehr oder weniger fortgefallen; 
im Deutschen Reich bestehen solche überhaupt 
nicht mehr, denn die hier zurzeit geltenden ge- 
setzlichen Sonderbestimmungen für die Taub- 
stummen sind eigentlich nur im Interesse ihres 
Rechtsschutzes getroffen. 
I. Mit Inkrafttreten des BE# ist die rechtliche 
Stellung der Taubstummen für das ganze Deutsche 
Reich auch privatrechtlich einheitlich ge- 
regelt, nachdem dies schon vorher in straf= und 
öffentlich-rechtlicher Beziehung durch GV, 
St GBB, St PO und Z3PO geschehen war. Wäh- 
rend seither in fast allen Bundesstaaten auf 
Grund landesgesetzlicher Bestimmungen (in Preu- 
ßen z. B. nach dem ALR T. II, Tit. XVIII 
#m P-15—18) jeder Taubstumme, auch gegen seinen 
eigenen Willen, unter Vormundschaft gestellt wer- 
den mußte oder konnte, wenn er durch sein Ge- 
brechen an der Besorgung seiner Rechtsangelegen- 
heiten behindert war, gelten die Taubstummen 
jetzt nach § 1910 des BS6 B als vollgeschäfts- 
fähig und bedünrfen, ebenso wie die Blinden, 
nur dann eines Pflegers, „wenn sie durch 
ihr Leiden in Besorgung ihrer Rechtsangelegen- 
heiten behindert sind und die Vormundschaftsbe- 
hörde die Anordnung einer Pflegschaft für nötig
	        
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