Full text: Wörterbuch des Deutschen Staats- und Verwaltungsrechts. Dritter Band. O bis Z. (3)

  
Taubstumme 
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erachtet“. Zu dieser Anordnung ist aber stets die 
Einwilligung des Taubstummen erforder- 
lich, abgesehen von den Fällen, wo eine Verstän- 
digung mit ihm nicht möglich ist. Die Bestellung 
eines Pflegers kann jedoch schon dann erfolgen, 
wenn der Taubstumme nur einzelne oder einen 
bestimmten Kreis seiner Angelegenheiten, insbe- 
sondere seine Vermögensangelegenheiten, nicht zu 
besorgen vermagj sie erstreckt sich in diesem Falle 
aber nur auf die betreffenden Angelegenheiten. 
Auch in familien- und erbrechtlicher 
Beziehung kann der Taubstumme selbständig han- 
deln und sich demgemäß verheiratent), 
einen Ehevertrag, Erbvertrag mit seinem 
Ehegatten abschließen, Erbschaften annehmen oder 
ausschlagen sowie ein Testament errichten. 
Mit Rücksficht auf seinen Rechtsschutz bestimmen je- 
doch die 3§5 2243, 2276 B n, daß ein derartiger 
Vertrag oder ein Testament nur durch Uebergabe 
einer Schrift an den Richter oder Notar und unter 
Abgabe einer eigenhändigen Erklärung 
erfolgen kann, daß die Schrift seinen letzten Willen 
(Erbvertrag) enthalte. 
Kann sich dagegen ein Taubstummer infolge 
seiner Ausbildung dem Richter usw. völlig ver- 
ständlich machen, so daß er vor diesem nicht mehr 
„stumm oder am Sprechen im Sinne des Ge- 
setzes verhindert ist"“, dann kann ihm auch die Er- 
richtung eines Testaments in den gleichen Formen 
wie vollsinnigen Menschen (F# 2231 und 2238 
Behnachgelassen werden. Taubstumme, die 
weder schreiben noch verständlich reden oder sich 
in anderer Weise verständlich machen können, sind 
selbstverständlich außer Stande, ein Testament zu 
errichten; sie sind aber in der Regel wegen Geistes- 
schwäche überhaupt zu Rechtshandlungen unfähig, 
als geschäftsunfähig im Sinne des & 104 anzu- 
on und demzufolge unter Vormundschaft zu 
tellen. 
II. In bezug auf die Verhandlungsfähig- 
keit bestimmt § 188 GV6, daß „zur Verhand- 
lung mit tauben oder stummen Personen, sofern 
nicht eine schriftliche Verständigung erfolgt, eine 
Person als Dolmetscher zuzuziehen ist, 
mit deren Hilfe die Verständigung in anderer 
Weise erfolgen kann"“. Ebenso schreibt das Rüber 
die freiw. Gerichtsbarkeit v. 17. 5. 98 in den 
88 168 und 169 vor, daß bei gerichtlichen oder 
notariellen Beurkundungen eines Rechtsgeschäftes, 
der Richter zwei Zeugen, der Notar einen zweiten 
Notar oder zwei Zeugen zuzuziehen hat, falls 
ein Beteiligter nach Ueberzeugung des Richters 
taub, stumm oder sonst am Sprechen verhindert ist. 
Nach §# 177 soll „das Protokoll den Beteiligten auf 
Verlangen zur Durchsicht vorgelegt werden“. Nach 
#+ 258 Abs 2 St PO müssen jedem Taubstummen 
aus den Schlußvorträgen mindestens die Anträge 
der Staatsanwaltschaft und des Verteidigers durch 
einen Dolmetscher bekannt gegeben werden, so- 
fern nicht eine schriftliche Verständigung erfolgte. 
1) Nach # 10 des G über die Beurkundung des Personen= 
standes /X1 v. ö. 2. 75 soll jedoch der Standesbeamte bei der 
Anzeige der von einem Stummen oder sonst am Sprechen 
Verhinderten oder Tauben beabsichtigten Eheschließung so- 
wie bei der Eheschließung selbst, auch bei der Eintragung 
ins Heirateregister einen Dolmetscher zuziehen, der zu ver- 
eidigen ist und die Eintragung zu genehmigen und zu unter- 
schreiben hot. 
  
Auch Aussagen der vernommenen Zeugen sind 
einem taubstummen Angeklagten schriftlich mitzu- 
teilen (R #t 36, 355). 
Eine Vereidigung der Taubstummen 
hat nach § 56 Ziff. 1 St PO und 5 393 Ziff. 1 3PO 
ebenso wie bei anderen Zeugen und Sachverstän- 
digen nur dann zu unterbleiben, wenn „sie das 
16. Lebensjahr noch nicht vollendet oder wegen 
mangelnder Verstandesreise oder wegen Ver- 
standesschwäche von dem Wesen und der Be- 
deutung des Eides keine genügende Vorstellung 
haben“. Sie stehen also in dieser Hinsicht den voll- 
sinnigen Personen gleich, können als Zeugen und 
Sachverständige zugezogen und vereidigt werden, 
nur mit dem Unterschiede, daß nach § 63 St PO 
und § 483 ZPOdie schreibkundigen Taubstummen 
den Eid mittels Abschreibens und Unterschreibens 
der die Eidesnorm enthaltenden Eidesformel, die 
schreibunkundigen mit Hilfe eines Dolmetschers 
durch Zeichen zu leisten haben. 
Ein Taubstummer, der die zur Erkenntnis der 
Strafbarkeit erforderliche Einsicht nicht besitzt, 
ist freizusprechen (§5 58 St PO); auch kann er nach 
#828 Abs 2 BGB für den einem anderen zuge- 
fügten Schaden nicht verantwortlich gemacht 
werden, „wenn er bei der Begehung der schädigen- 
den Handlung nicht die zur Erkenntnis der Ver- 
antwortlichkeit erforderliche Einsicht gehabt hat". 
Ebenso wie ein Blinder ist auch der Taubstumme 
sukzessionsfähig in bezug auf Thron- 
folge, Fideikommißerbe usw.; desgleichen ist seine 
Wahlberechtigung zu den gesetzgebenden 
Körperschaften (Reichstag, Landtag usw.) wie zu 
den Gemeinde= usw. Vertretungen, solange er 
nicht unter Pflegschaft steht, nicht beschränkt. 
Seine Wahlfähigkeit zu derartigen Ehren- 
ämtern ist zwar nicht ausdrücklich ausgeschlossen, 
mit Rücksicht auf sein Gebrechen ist er aber hierfür 
ebenso ungeeignet wie für etwaige amtliche Stel- 
lungen. Im 7 33 Ziff. 4 und §85 GWVG# wird des- 
halb auch mit Recht der Taubstumme denjenigen 
Personen zugerechnet, die wegen körperlicher Ge- 
brechen zu dem Amte eines Schöffen oder 
Geschworenen als nicht geeignet anzusehen 
sind; dagegen läßt sie die 8 PO zwar als Schieds- 
richter zu, gestattet aber nach § 1032 ihre Ableh- 
nung. Desgleichen spricht ihnen das BGB nicht die 
Befähigung zur Uebernahme einer Vormund- 
schaft ab, gibt ihnen aber im & 1786 Ziff. 4 
das Recht zu ihrer Ablehnung. — Von der Wehr- 
pflicht sind Taubstumme selbstverständlich 
dauernd befreit. — Nach der RVO sind sie gegen 
Krankheit, Unfall und Invalidität versiche- 
rungspflichtig, sobald sie gegen Lohn 
beschäftigt werden. Taubstummen ist nach §5 57 a 
Ziff. 2 GewO ein Wandergewerbe- 
schein (NI in der Regel zu versagen. 
Literatur: R. Behla, Die Taubstummen in 
Preußen (8 d. Königl. Preuß. statistischen Landesamts, 
1912); Zur Taubstummenstatistik in Preußen, 1913 (Me- 
dizinalstatistische Nachrichten, 2. Ihg. 1912/13, 4 H.); En- 
gCelmann, Die Taubstummen im Deutschen Reiche 
(Medizinalstatistische Mitteilungen aus dem Kaiserl. Gesund- 
heitsamte, 11. Bd., 1905); Huscheus, Die soziale Be- 
deutung der Taubstummenbildung, 1912; Kockel- 
mann, Taubstummenbildung und Taubstummenfürsorge, 
1910ö; Radomski, Statistische Nachrichten über die 
Taubstummenanstalten in Deutschland sowie über deren
	        
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