Taubstumme
585
erachtet“. Zu dieser Anordnung ist aber stets die
Einwilligung des Taubstummen erforder-
lich, abgesehen von den Fällen, wo eine Verstän-
digung mit ihm nicht möglich ist. Die Bestellung
eines Pflegers kann jedoch schon dann erfolgen,
wenn der Taubstumme nur einzelne oder einen
bestimmten Kreis seiner Angelegenheiten, insbe-
sondere seine Vermögensangelegenheiten, nicht zu
besorgen vermagj sie erstreckt sich in diesem Falle
aber nur auf die betreffenden Angelegenheiten.
Auch in familien- und erbrechtlicher
Beziehung kann der Taubstumme selbständig han-
deln und sich demgemäß verheiratent),
einen Ehevertrag, Erbvertrag mit seinem
Ehegatten abschließen, Erbschaften annehmen oder
ausschlagen sowie ein Testament errichten.
Mit Rücksficht auf seinen Rechtsschutz bestimmen je-
doch die 3§5 2243, 2276 B n, daß ein derartiger
Vertrag oder ein Testament nur durch Uebergabe
einer Schrift an den Richter oder Notar und unter
Abgabe einer eigenhändigen Erklärung
erfolgen kann, daß die Schrift seinen letzten Willen
(Erbvertrag) enthalte.
Kann sich dagegen ein Taubstummer infolge
seiner Ausbildung dem Richter usw. völlig ver-
ständlich machen, so daß er vor diesem nicht mehr
„stumm oder am Sprechen im Sinne des Ge-
setzes verhindert ist"“, dann kann ihm auch die Er-
richtung eines Testaments in den gleichen Formen
wie vollsinnigen Menschen (F# 2231 und 2238
Behnachgelassen werden. Taubstumme, die
weder schreiben noch verständlich reden oder sich
in anderer Weise verständlich machen können, sind
selbstverständlich außer Stande, ein Testament zu
errichten; sie sind aber in der Regel wegen Geistes-
schwäche überhaupt zu Rechtshandlungen unfähig,
als geschäftsunfähig im Sinne des & 104 anzu-
on und demzufolge unter Vormundschaft zu
tellen.
II. In bezug auf die Verhandlungsfähig-
keit bestimmt § 188 GV6, daß „zur Verhand-
lung mit tauben oder stummen Personen, sofern
nicht eine schriftliche Verständigung erfolgt, eine
Person als Dolmetscher zuzuziehen ist,
mit deren Hilfe die Verständigung in anderer
Weise erfolgen kann"“. Ebenso schreibt das Rüber
die freiw. Gerichtsbarkeit v. 17. 5. 98 in den
88 168 und 169 vor, daß bei gerichtlichen oder
notariellen Beurkundungen eines Rechtsgeschäftes,
der Richter zwei Zeugen, der Notar einen zweiten
Notar oder zwei Zeugen zuzuziehen hat, falls
ein Beteiligter nach Ueberzeugung des Richters
taub, stumm oder sonst am Sprechen verhindert ist.
Nach §# 177 soll „das Protokoll den Beteiligten auf
Verlangen zur Durchsicht vorgelegt werden“. Nach
#+ 258 Abs 2 St PO müssen jedem Taubstummen
aus den Schlußvorträgen mindestens die Anträge
der Staatsanwaltschaft und des Verteidigers durch
einen Dolmetscher bekannt gegeben werden, so-
fern nicht eine schriftliche Verständigung erfolgte.
1) Nach # 10 des G über die Beurkundung des Personen=
standes /X1 v. ö. 2. 75 soll jedoch der Standesbeamte bei der
Anzeige der von einem Stummen oder sonst am Sprechen
Verhinderten oder Tauben beabsichtigten Eheschließung so-
wie bei der Eheschließung selbst, auch bei der Eintragung
ins Heirateregister einen Dolmetscher zuziehen, der zu ver-
eidigen ist und die Eintragung zu genehmigen und zu unter-
schreiben hot.
Auch Aussagen der vernommenen Zeugen sind
einem taubstummen Angeklagten schriftlich mitzu-
teilen (R #t 36, 355).
Eine Vereidigung der Taubstummen
hat nach § 56 Ziff. 1 St PO und 5 393 Ziff. 1 3PO
ebenso wie bei anderen Zeugen und Sachverstän-
digen nur dann zu unterbleiben, wenn „sie das
16. Lebensjahr noch nicht vollendet oder wegen
mangelnder Verstandesreise oder wegen Ver-
standesschwäche von dem Wesen und der Be-
deutung des Eides keine genügende Vorstellung
haben“. Sie stehen also in dieser Hinsicht den voll-
sinnigen Personen gleich, können als Zeugen und
Sachverständige zugezogen und vereidigt werden,
nur mit dem Unterschiede, daß nach § 63 St PO
und § 483 ZPOdie schreibkundigen Taubstummen
den Eid mittels Abschreibens und Unterschreibens
der die Eidesnorm enthaltenden Eidesformel, die
schreibunkundigen mit Hilfe eines Dolmetschers
durch Zeichen zu leisten haben.
Ein Taubstummer, der die zur Erkenntnis der
Strafbarkeit erforderliche Einsicht nicht besitzt,
ist freizusprechen (§5 58 St PO); auch kann er nach
#828 Abs 2 BGB für den einem anderen zuge-
fügten Schaden nicht verantwortlich gemacht
werden, „wenn er bei der Begehung der schädigen-
den Handlung nicht die zur Erkenntnis der Ver-
antwortlichkeit erforderliche Einsicht gehabt hat".
Ebenso wie ein Blinder ist auch der Taubstumme
sukzessionsfähig in bezug auf Thron-
folge, Fideikommißerbe usw.; desgleichen ist seine
Wahlberechtigung zu den gesetzgebenden
Körperschaften (Reichstag, Landtag usw.) wie zu
den Gemeinde= usw. Vertretungen, solange er
nicht unter Pflegschaft steht, nicht beschränkt.
Seine Wahlfähigkeit zu derartigen Ehren-
ämtern ist zwar nicht ausdrücklich ausgeschlossen,
mit Rücksicht auf sein Gebrechen ist er aber hierfür
ebenso ungeeignet wie für etwaige amtliche Stel-
lungen. Im 7 33 Ziff. 4 und §85 GWVG# wird des-
halb auch mit Recht der Taubstumme denjenigen
Personen zugerechnet, die wegen körperlicher Ge-
brechen zu dem Amte eines Schöffen oder
Geschworenen als nicht geeignet anzusehen
sind; dagegen läßt sie die 8 PO zwar als Schieds-
richter zu, gestattet aber nach § 1032 ihre Ableh-
nung. Desgleichen spricht ihnen das BGB nicht die
Befähigung zur Uebernahme einer Vormund-
schaft ab, gibt ihnen aber im & 1786 Ziff. 4
das Recht zu ihrer Ablehnung. — Von der Wehr-
pflicht sind Taubstumme selbstverständlich
dauernd befreit. — Nach der RVO sind sie gegen
Krankheit, Unfall und Invalidität versiche-
rungspflichtig, sobald sie gegen Lohn
beschäftigt werden. Taubstummen ist nach §5 57 a
Ziff. 2 GewO ein Wandergewerbe-
schein (NI in der Regel zu versagen.
Literatur: R. Behla, Die Taubstummen in
Preußen (8 d. Königl. Preuß. statistischen Landesamts,
1912); Zur Taubstummenstatistik in Preußen, 1913 (Me-
dizinalstatistische Nachrichten, 2. Ihg. 1912/13, 4 H.); En-
gCelmann, Die Taubstummen im Deutschen Reiche
(Medizinalstatistische Mitteilungen aus dem Kaiserl. Gesund-
heitsamte, 11. Bd., 1905); Huscheus, Die soziale Be-
deutung der Taubstummenbildung, 1912; Kockel-
mann, Taubstummenbildung und Taubstummenfürsorge,
1910ö; Radomski, Statistische Nachrichten über die
Taubstummenanstalten in Deutschland sowie über deren