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Unterrichtswesen (höheres)
gewalt als Trägerin von höheren Schulen in den
Vordergrund. Im 18. Jahrhundert wirkt die
stärkere Betonung des Staatsgedankens immer
mehr auf eine einheitliche Organisation des höhe-
ren Unterrichtswesens hin, in dem infolge des
Wandels der Zeitverhältnisse nunmehr neben dem
die alte Lateinschule im wesentlichen fortführen-
den „Gymnasium“, z. T. unter dem Einfluß des
Philanthropismus, auch moderne Bildungsele-
mente sich bemerkbar machen. Um 1800 ist der
Prozeß der planmäßigen Regelung des höheren
Unterrichtswesens unter staatlicher Aufsicht zu
einem ersten Abschluß gekommen: es beginnt die
systematische Entwicklung eines einheitlichen Lehr-
planwesens, eines berufsmäßigen wissenschaftli-
chen Lehrerstandes und einer allgemeinen staat-
lichen Regelung der Schulverfassung, die aller-
dings nur in einzelnen Staaten eine feste gesetz-
liche Grundlage gewinnt. — Die RV von 1871
sieht von Zentralisierung des Schulwesens ab:
es bleibt durchaus Sache der Einzelstaaten, und
nur die zunehmende freie Betonung des Einheits-
gedankens bringt auch dem höheren Unterrichts-
wesen mehr und mehr die Beseitigung nachteiliger
Unterschiede in der Schulverfassung, wobei die
großen Einzelstaaten von Süddeutschland, auch
infolge der dortigen in vielen Dingen grund-
verschiedenen Tradition, an der Eigenart ihrer
Schuleinrichtungen stärker festhalten als die nord-
deutschen Staaten; ein höheres Unterrichtswesen
de s Deutschen Reiches gibt es auch heute noch
nicht, man darf nur von einem höheren Unterrichts-
wesen im Deutschen Reiche reden. Uebrigens
weicht Bayern in der Benennung der höheren
Schulen (wie Oesterreich) von dem Norden auch
insofern ab, als es die alte, an die Mittelstellung
der Anstalten zwischen Universität und Volksschule,
erinnernde Bezeichnung „Mittelschule“ auch jetzt
noch beibehält, während durch die preußischen
Ministerialverfügungen von 1872 und 1910 unter
der Bezeichnung „Mittelschulen“ [NI ein neuer,
zwischen höherer und Volksschule stehender Schul-
typus geschaffen und immer wachsender Verbrei-
tung zugeführt worden ist.
Die auf die Dresdener Vereinbarungen von
1872 zurückgehende, vom Beingesetzte Reichs-
schulkommission hat die Anträge für den
RK zu begutachten, die von seiten höherer Lehr-
anstalten auf Verleihung des Rechtes zur Aus-
stellung von Zeugnissen über die wissenschaftliche
Befähigung zum einjährig-freiwilligen Dienst im
Sinne von 5 90 der Deutschen Wehr O gestellt
werden; sie besteht seit 1875 aus 4 ständigen
(Preußen, Bayern, Sachsen, Württemberg) und
2 wechselnden (1 zwischen Baden, Hessen, Elsaß-
Lothringen, Mecklenburg-Schwerin; 1 zwischen
den übrigen Staaten) Mitgliedern. Der Gedanke
eines Reichsschulmuseums (J. Ziehen, Ueber den
Gedanken eines deutschen Reichsschulmuseums,
1905; L. Pallat u. a., Die deutsche Unterrichts-
ausstellung, 1913) ist noch nicht durchge führt.
Für die Auslandschulen (Vvgl. J 3 IV)
ist das Auswärtige Amt zuständig.
#2. Organisation der Behörden.
1. Preußen. a) Die ausschließlich dem
Staate zustehende Aufsicht über das Schulwesen
(ALR II Tit. 12 89; Vu v. 31. 1. 50; Gv. 11.
3. 72) wird ausgeübt von der 2. Abteilung (seit
1882) des 1817 vom Min Inn [I abgezweigten
Ministerium der geistlichen und Un-
terrichtsangelegenheiten, das als Zen-
tralbehörde an die Stelle des lutherischen und
des reformierten Departements, bezw. des 1787
eingesetzten Oberschulkollegiums getreten ist; als
Zwischenbehörden bestehen die von den Konsistorien
seit 1845 völlig abgelösten Provinzialschul-
kollegien, I für jede der 12 Provinzen, die 3
Provinzialschulkollegien von Koblenz, Magdeburg
und Kassel zugleich Aufsichtsbehörde für die Hohen-
zollernschen Lande, Waldeck und Pyrmont, sowie
Sachsen-Altenburg, das von Brandenburg zu-
gleich für den Stadtkreis Berlin zuständig; Vor-
sitzender ist der Oberpräsident der Provinz, Di-
rektor der am Orte funktionierende Reg Präsident
oder ein Oberregierungsrat mit juristischer oder
fachmännischer Vorbildung (1913: 5 der letzteren
Art); Mitglieder des Kollegiums sind die Pro-
vinzialschulräte, die z. T. durch einen schultechni-
schen Mitarbeiter unterstützt werden, und der
Justitiar und Verw Rat. Die Tätigkeit der Pro-
vinzialschulräte ist durch Min E v. 23. 10. 11 mehr
nach örtlichen Gesichtspunkten eingeteilt, auf
4 jährige Revisionsberichte eingestellt und daneben
in bezug aaf die Art der Amtsführung durch eine
Reihe wichtiger Bestimmungen im Sinne neue-
rer Forderungen (vgl. J. Ziehen, Zur Führung
des Schulaufsichtsamtes an höheren Schulen,
1907) neu geregelt worden. Wie weit die geplante
VerwzReform die Provinzialschulkollegien ändern
oder ersetzen wird, steht noch nicht fest.
Den Generalsuperintendenten und den katko-
lischen Bischöfen steht es zu, sich von der religiösen
und sittlichen Tendenz der höheren Schulen durch
Visitationen zu unterrichten und bezügliche An-
träge an die Aufsichtsbehörden zu stellen.
Die Interessen der nicht-staatlichen An-
stalten werden von den Patronaten durch die
Magistrate selbst oder durch besondere Kommis-
sionen (Kuratorien) wahrgenommen, deren Rechts-
stellung und, abgesehen von der Wahl der Direktoren
und Lehrer, im wesentlichen auf die Verwaltung der
äußeren Angelegenheiten beschränkter Wirkungs-
kreis nicht einheitlich geregelt ist; sie unterstehen den
Provinzialschulkollegien, die nach Min E v. 30. 12.
1874 die Befugnis zur Anwendung von Ordnungs-
strafen gegen ihre Mitglieder in Anspruch nehmen
dürfen. Bei zahlreichen Kuratorien beansprucht der
Staat das Recht der Bestätigung der Mitglieder.
Die größeren Städte sind mehr und mehr dazu
übergegangen, in die Zahl der Magistratsmitglie-
der auch einen Schulmann aufzunehmen. Zum
völligen Ausbau im Sinne Steins und Humboldts
ist die Selbstverwaltung auf dem Gebiete des
höheren Unterrichtswesens noch nicht gelangt.
b) Als beratende Instanz für die Pro-
vinzialbehörden finden seit 1823 alle 4 Jahre
Direktorenversammlungen statt.
Der im Jahre 1848 besonders lebhaft ausge-
nommene Gedanke ständiger Sachverständigen-
Konferenzen ist bisher nur in zeitweilig aus
besonderen Anlässen einberufenen Schulkon-
ferenzen (1849; 1873; 1890; 1900) verwirk-
licht worden.
o) Den amtlich ihnen nicht zugestandenen Ein-
fluß auf die Entwicklung des Schulwesens haben
die Laien kreise z. T. durch die großen
schulpolitischen Vereine (Einheitsschulverein 1886
bis 1891), Gymnasialverein (gegründet 1890),