Verhaftung
661
3 6. Die Untersuchnngshaft, „Verhaftung“
schlechtweg.
I. Nach der St P ist sie die auf einen schrift-
lichen, richterlichen Haftbefehl erfolgende dauernde
Gefangennahme des einer Straftat dringend
Verdächtigen, um die von ihm zu erwartende
Flucht oder Verwischung des Beweises (sog.
Kollusion) zu verhüten. Sie ist zulässig bei jeder
Art von Straftaten; in jeder Art Verfahren, aus-
genommen bei Privatklage (streitig!); gegen jede
bctt von Beschuldigten, auch Jugendliche; in je-
dem Stadium des Verfahrens bis zur Rechts-
kraft, ausnahmsweise und eigenartig sogar nach
ihr, St pO s 489. Sie ist nie gesetzlich nötig, aber
ihre Anordnung ist in einigen Fällen durch wider-
legbare Vermutung des Fluchtverdachts erleich-
tert, in anderen Fällen stark beschränkt, St PO
#s 112, 113, ähnlich MS1GO s§ 175, 176 als
gerichtsherrliche Maßregel.
II. Voraussetzungen. Die Verhaftung
setzt für den Richter (Gerichtsherrn) voraus:
1. „Dringende — auf Tatsachen beruhende —
Verdachtsgründe“", daß eine bestimmte, nach in-
ländischem Recht der Strafverfolgung und Abur-
teilung unterliegende Straftat irgend einer Art
begangen, und daß der zu Verhaftende der nach
inländischem Recht verfolgbare Täter ist; ferner
2. entweder a) tatsächlich begründeter — u. U.
aber gesetzlich vermuteter — Verdacht, daß der
Beschuldigte sich der Untersuchung oder Bestra-
fung durch die Flucht entziehen werde, d. h. daß
er unauffindbar oder im Ausland unerreichbar
sei; nicht aber, daß er sich töte, — oder b) weil er
trotz Ladung zur Hauptverhandlung ausgeblieben
ist, St PO 8s 229, 235, MStGO 75278, — oder
c) auf Tatsachen beruhender Verdacht, „daß er
Spuren der Tat vernichten oder daß er Zeugen
oder Mitschuldige zu einer falschen Aussage oder
Zeugen dazu verleiten werde, sich der Zeugnis-
pflicht zu entziehen“ (nicht bei St PO 5l 1131). —
Die Berechtigung dieser Kollusionshaft, die die
Verteidigung stark hemmt, ist stets lebhaft be-
stritten. Ganz zu vermeiden wird sie kaum sein;
erst die Gesetzgebung des 19. Jahrhunderts regelte
sie. — Bei sog. Antragsdelikten (und Ermächti-
gungsdelikten) ist U## vor Antragstellung zulässig.
St PO § 127, 130, leider ungenügend, besser
MStGO 182. —
III. Anordnung. Die UH wird nach
neuerem Recht stets durch einen schriftlichen „Haft-
befehl“ (rotes Formular) angeordnet, der die
konkrete Tat, den Beschuldigten und den Haft-
grund nennt. St PO #+ 114, unklar Mt GO ## 175.
Ihn erläßt auf Antrag oder von Amts wegen auch
vor jeder Vernehmung im Militärstrafverfahren
der Gerichtsherr, sonst ausschließlich ein Richter
(aber St PO # 4891). Dies ist vor öffentlicher
Klage der für die Straftat örtlich zuständige oder
der den Beschuldigten antreffende Amtsrichter
125, nachher der Untersuchungsrichter, das sonst
uständige Gericht I. oder II. Instanz oder u. U.
sein Vorsitzender, 5+ 124, nach gemeiner Meinung
aber nie das Revisionsgericht. Eine Pflicht zur
Benachrichtigung anderer Behörden wird durch
Verordnungen geregelt. — Einen besonderen
Haftprozeß kennt St PO nicht. —
Vorsicht in der Anwendung der stets stark
niederdrückenden U# (siehe F. Auer, Zur Psy-
chologie der Gefangenschaft, 1905) ist dringend
geboten.
Eine Statistik siehe in der Denkschrift
beim Kommissionsbericht zum St O Entw.
1909/11 RT 12. Leg.-Per. II. Sess. Nr. 638
S 857 ff; auch in der Statistik der Justizgefäng-
nisse in Preußen.
IV. Ausführung. Auf Grund des Haft-
befehls wird der Beschuldigte überall im Deutschen
Reich (GVG F 161) durch staatliche Beamte, die
sich Private zur Hilfe holen können (preuß. Erl
v. 24. 4. 80, Ml 136) u. U. gewaltsam „verhaftet",
auch bei Nacht, und ins Gefängnis des verfolgen-
den Gerichts gebracht. Der Haftbefehl ist ihm
spätestens am Tage nach seiner Einlieferung, trotz
Feiertags, bekannt zu geben; in derselben Zeit
muß ein Richter ihn verhören, trotz früherer Ver-
nehmung. Hierin liegt eine der wichtigsten Ga-
rantien. St pO s 114, 115. Bei Ergreifung
außerhalb des Haftorts ist die Identität zu prüfen
5*132. — Ebenso MStGO 5+5 177, aber Verneh-
mung durch den Untersuchungsführer; — nach
ms#184 durch eine „Militärbehörde“. —
Die UH wird im Gefängnis, regelmäßig in
Einzelhaft, vollzogen; dies dient nur selten aus-
schließlich diesem Zweck. Hausarrest ist heute
unbekannt t(anders früher, Planck S 263;
Röm. Recht kannte auch custodia militaris und
o. libera); doch kann UH unter besonderen Um-
ständen auch in der Wohnung oder im Kranken-
haus vollzogen werden (Glaser II, 299 Anm. 4;
Hümmer, Goltd Arch 54, 64; AM Rosenberg,
ZStr W 26, 367). — Jugendliche Verhaftete
werden auch in Erziehungsanstalten verwahrt.
JugendgerichtsG Entw 1912 5 10 verlangt für
sie möglichste Trennung von Erwachsenen und
überhaupt möglichst Ersatz der Um durch andere
Maßregeln. Komm B 13. Leg.-Per. I. Sess.
1912/13 Nr. 1054; hierbei Umfrage S. 172.
Bei naher Lebensgefahr darf UlÜl analog
St PO 5§ 487 f nicht vollzogen werden.
St PO 5s 116 (ebenso MStGO # 178) gibt
Anweisung, daß der Verhaftete nicht wie
ein Bestrafter behandelt werde lschon
PGO a 11). Nur die Sicherung des Haftzwecks
ist zu beachten, Arbeitszwang unzulässig. Freilich
sind Praxis und Gefängnisordnungen darin
keineswegs sehr peinlich. Z. B. Disziplinar-
strafen (Gef.O des preuß. Justiz Min v. 21. 12. 98
§ 58, 95) sind sehr bedenklich. (Hierzu Klee,
Goltd Arch 55, 257.) — Eine „mise au seoret“,
ein zeitweises Verbot jedes Verkehrs mit außen,
ist unbekannt (anders Frankreich, Code d’in-
struction criminelle art 613, 618, gemildert
im G v. 8. 12. 97 a 8). Doch ist Verkehr nach
außen nur unter Kontrolle erlaubt, selbst mit
dem Verteidiger, St PO 5§5 148. Eine Beschrän-
kung auch in St PO s 191, 224. Die Aus-
führung steht unter Richterkontrolle, St PO §# 116.
— Ueber Behandlung beim Transport
schweigt St PO leider. — Regelmäßige Verneh-
mungen oder Kontrollen der Notwendigkeit der
U#sind nicht vorgesehen (anders z. B. in Bel-
gien, G v. 20. 4. 74 a 5). — Die Praxis läßt
UH auch während einer Strafhaft ausführen und
diese dadurch unterbrechen, was unzulässig ist
(Olbricht, Goltd Arch 54, 218 mit Zitaten). — Die
Kosten sind allgemeine Verfahrenskosten. —