Full text: Wörterbuch des Deutschen Staats- und Verwaltungsrechts. Dritter Band. O bis Z. (3)

  
Verhaftung 
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3 6. Die Untersuchnngshaft, „Verhaftung“ 
schlechtweg. 
I. Nach der St P ist sie die auf einen schrift- 
lichen, richterlichen Haftbefehl erfolgende dauernde 
Gefangennahme des einer Straftat dringend 
Verdächtigen, um die von ihm zu erwartende 
Flucht oder Verwischung des Beweises (sog. 
Kollusion) zu verhüten. Sie ist zulässig bei jeder 
Art von Straftaten; in jeder Art Verfahren, aus- 
genommen bei Privatklage (streitig!); gegen jede 
bctt von Beschuldigten, auch Jugendliche; in je- 
dem Stadium des Verfahrens bis zur Rechts- 
kraft, ausnahmsweise und eigenartig sogar nach 
ihr, St pO s 489. Sie ist nie gesetzlich nötig, aber 
ihre Anordnung ist in einigen Fällen durch wider- 
legbare Vermutung des Fluchtverdachts erleich- 
tert, in anderen Fällen stark beschränkt, St PO 
#s 112, 113, ähnlich MS1GO s§ 175, 176 als 
gerichtsherrliche Maßregel. 
II. Voraussetzungen. Die Verhaftung 
setzt für den Richter (Gerichtsherrn) voraus: 
1. „Dringende — auf Tatsachen beruhende — 
Verdachtsgründe“", daß eine bestimmte, nach in- 
ländischem Recht der Strafverfolgung und Abur- 
teilung unterliegende Straftat irgend einer Art 
begangen, und daß der zu Verhaftende der nach 
inländischem Recht verfolgbare Täter ist; ferner 
2. entweder a) tatsächlich begründeter — u. U. 
aber gesetzlich vermuteter — Verdacht, daß der 
Beschuldigte sich der Untersuchung oder Bestra- 
fung durch die Flucht entziehen werde, d. h. daß 
er unauffindbar oder im Ausland unerreichbar 
sei; nicht aber, daß er sich töte, — oder b) weil er 
trotz Ladung zur Hauptverhandlung ausgeblieben 
ist, St PO 8s 229, 235, MStGO 75278, — oder 
c) auf Tatsachen beruhender Verdacht, „daß er 
Spuren der Tat vernichten oder daß er Zeugen 
oder Mitschuldige zu einer falschen Aussage oder 
Zeugen dazu verleiten werde, sich der Zeugnis- 
pflicht zu entziehen“ (nicht bei St PO 5l 1131). — 
Die Berechtigung dieser Kollusionshaft, die die 
Verteidigung stark hemmt, ist stets lebhaft be- 
stritten. Ganz zu vermeiden wird sie kaum sein; 
erst die Gesetzgebung des 19. Jahrhunderts regelte 
sie. — Bei sog. Antragsdelikten (und Ermächti- 
gungsdelikten) ist U## vor Antragstellung zulässig. 
St PO § 127, 130, leider ungenügend, besser 
MStGO 182. — 
III. Anordnung. Die UH wird nach 
neuerem Recht stets durch einen schriftlichen „Haft- 
befehl“ (rotes Formular) angeordnet, der die 
konkrete Tat, den Beschuldigten und den Haft- 
grund nennt. St PO #+ 114, unklar Mt GO ## 175. 
Ihn erläßt auf Antrag oder von Amts wegen auch 
vor jeder Vernehmung im Militärstrafverfahren 
der Gerichtsherr, sonst ausschließlich ein Richter 
(aber St PO # 4891). Dies ist vor öffentlicher 
Klage der für die Straftat örtlich zuständige oder 
der den Beschuldigten antreffende Amtsrichter 
125, nachher der Untersuchungsrichter, das sonst 
uständige Gericht I. oder II. Instanz oder u. U. 
sein Vorsitzender, 5+ 124, nach gemeiner Meinung 
aber nie das Revisionsgericht. Eine Pflicht zur 
Benachrichtigung anderer Behörden wird durch 
Verordnungen geregelt. — Einen besonderen 
Haftprozeß kennt St PO nicht. — 
Vorsicht in der Anwendung der stets stark 
niederdrückenden U# (siehe F. Auer, Zur Psy- 
  
chologie der Gefangenschaft, 1905) ist dringend 
geboten. 
Eine Statistik siehe in der Denkschrift 
beim Kommissionsbericht zum St O Entw. 
1909/11 RT 12. Leg.-Per. II. Sess. Nr. 638 
S 857 ff; auch in der Statistik der Justizgefäng- 
nisse in Preußen. 
IV. Ausführung. Auf Grund des Haft- 
befehls wird der Beschuldigte überall im Deutschen 
Reich (GVG F 161) durch staatliche Beamte, die 
sich Private zur Hilfe holen können (preuß. Erl 
v. 24. 4. 80, Ml 136) u. U. gewaltsam „verhaftet", 
auch bei Nacht, und ins Gefängnis des verfolgen- 
den Gerichts gebracht. Der Haftbefehl ist ihm 
spätestens am Tage nach seiner Einlieferung, trotz 
Feiertags, bekannt zu geben; in derselben Zeit 
muß ein Richter ihn verhören, trotz früherer Ver- 
nehmung. Hierin liegt eine der wichtigsten Ga- 
rantien. St pO s 114, 115. Bei Ergreifung 
außerhalb des Haftorts ist die Identität zu prüfen 
5*132. — Ebenso MStGO 5+5 177, aber Verneh- 
mung durch den Untersuchungsführer; — nach 
ms#184 durch eine „Militärbehörde“. — 
Die UH wird im Gefängnis, regelmäßig in 
Einzelhaft, vollzogen; dies dient nur selten aus- 
schließlich diesem Zweck. Hausarrest ist heute 
unbekannt t(anders früher, Planck S 263; 
Röm. Recht kannte auch custodia militaris und 
o. libera); doch kann UH unter besonderen Um- 
ständen auch in der Wohnung oder im Kranken- 
haus vollzogen werden (Glaser II, 299 Anm. 4; 
Hümmer, Goltd Arch 54, 64; AM Rosenberg, 
ZStr W 26, 367). — Jugendliche Verhaftete 
werden auch in Erziehungsanstalten verwahrt. 
JugendgerichtsG Entw 1912 5 10 verlangt für 
sie möglichste Trennung von Erwachsenen und 
überhaupt möglichst Ersatz der Um durch andere 
Maßregeln. Komm B 13. Leg.-Per. I. Sess. 
1912/13 Nr. 1054; hierbei Umfrage S. 172. 
Bei naher Lebensgefahr darf UlÜl analog 
St PO 5§ 487 f nicht vollzogen werden. 
St PO 5s 116 (ebenso MStGO # 178) gibt 
Anweisung, daß der Verhaftete nicht wie 
ein Bestrafter behandelt werde lschon 
PGO a 11). Nur die Sicherung des Haftzwecks 
ist zu beachten, Arbeitszwang unzulässig. Freilich 
sind Praxis und Gefängnisordnungen darin 
keineswegs sehr peinlich. Z. B. Disziplinar- 
strafen (Gef.O des preuß. Justiz Min v. 21. 12. 98 
§ 58, 95) sind sehr bedenklich. (Hierzu Klee, 
Goltd Arch 55, 257.) — Eine „mise au seoret“, 
ein zeitweises Verbot jedes Verkehrs mit außen, 
ist unbekannt (anders Frankreich, Code d’in- 
struction criminelle art 613, 618, gemildert 
im G v. 8. 12. 97 a 8). Doch ist Verkehr nach 
außen nur unter Kontrolle erlaubt, selbst mit 
dem Verteidiger, St PO 5§5 148. Eine Beschrän- 
kung auch in St PO s 191, 224. Die Aus- 
führung steht unter Richterkontrolle, St PO §# 116. 
— Ueber Behandlung beim Transport 
schweigt St PO leider. — Regelmäßige Verneh- 
mungen oder Kontrollen der Notwendigkeit der 
U#sind nicht vorgesehen (anders z. B. in Bel- 
gien, G v. 20. 4. 74 a 5). — Die Praxis läßt 
UH auch während einer Strafhaft ausführen und 
diese dadurch unterbrechen, was unzulässig ist 
(Olbricht, Goltd Arch 54, 218 mit Zitaten). — Die 
Kosten sind allgemeine Verfahrenskosten. — 
 
	        
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