Verwaltung, Verwaltungsrecht
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ihren Formen und stellt somit ein System der
formellen Hoheitsrechte dar. In
diesem Sinne werden wir den Begriff der Verw
zu entwickeln haben: unten 88 7ff.
Ueber die Terminologie Verw, Vollziehung,
Regierung vgl. 8 11.
III. Verwd ist nun nicht etwa der Inbegriff
der Rechtsnormen, nach denen der verwaltende
Staat lebt, sondern nur ein Ausschnitt aus diesen —
denn auch der verwaltende Staat lebt zunächst
nach den Rechtsnormen des allgemeinen bürger-
lichen oder Zivilrechts, und VerwR ist nur das
Sonderrecht für die spezzifisch
herrschaftliche Verwaltungstätig-
keit des Staates, für die die Mittel des gemei-
nen bürgerlichen Rechts nicht ausreichen: es ist
ein Inbegriff besonderer herrschaftlicher Rechts-
begriffe und einstitute, der sich aus denen des
Privatrechts ausgesondert hat und zu einem
eigenen System ausgestaltet worden ist: vygl.
z8 12ff.
IV. In welcher Weise sich die Verw von den
übrigen Funktionen der Gesetzgebung und Justiz
und das Verwä aus dem gemeinen bürgerlichen
Recht differenziert hat, läßt sich nicht durch
apriorische Prinzipien bestimmen, sondern ist aus-
schließlich Sache der positiven historischen Ent-
wicklung.
Diese hat sich bei dem intimen Zusammen-
hang, in dem sie mit der Entstehung des
modernen Staates und seiner politischen und
Verfassungsgeschichte steht, in den führenden
Staaten der heutigen Welt in durchaus verschie-
denen Bahnen bewegt, so sehr auch die Ausgangs-
punkte dieselben waren, so sehr ferner gleiche
Entwicklungsgesetze und tendenzen unverkennbar
sind, so sehr weiter bedeutsame identische und
auch gegenseitige Beeinflussungen stattgefunden
haben, und so sehr endlich die Resultate gemein-
same Züge aufweisen. Es sind namentlich der
verschiedene Zeitpunkt und die verschiedene Be-
deutung von Absolutismus und Revolution, welche
der englischen, französischen und
deutschen Lösung unserer Probleme den ihr
eigentümlichen Stempel aufgedrückt haben.
Da bei uns weder der Absolutismus noch
die Revolution eine tabula rasa geschaffen und
auf ihr einen völligen Neubau errichtet haben,
kann nicht genug vor Argumentationen aus dem
„Wesen des modernen Staates“ oder aus dem
„Wesen des modernen Verwaltungsrechts“ ge-
warnt werden: und nur eine historische
Orientierung kann den Weg durch die
viel verschlungenen, durch keine Kodifikation ratio-
nalisierten Pfade unseres Verw weisen. Auch
das durch keine Revolution aufgehobene Weiter-
bestehen von Rechtsverhältnissen aus früheren.
bistorischen Schichten macht diese Orientierung
zu einer unmittelbar praktischen Aufgabe.
v. Sarwoy, Allgem. Verw K s/ 1, 4, 5, 12, 14;
Loening # 1; G. Meyer #1; O. Mayer K 1, 2;
Ders., Theorie d. französischen VerwR 42; Fleiners
4# 1, 4; Schoen in Holzendorffs Enzyklopädie' Bd. IV
4 1; Auschütz ebenda § 44: Laband" Bod. II 8674;
Haenel KK 17—19; Ders., Gesetz i. sorm. u. mater.
Einne S 177f; Arndt, StR 203 f:; Ders. in Birk-
eneyers Enzyklopädier S 111f; G. Jellinek, Allgem.
Staatslehres S 606 f; Ulbrich, Der Rechtsbegriff
v. Stengel-Fleischmann, Wörterbuch. 2. Aufl.
der Verw in Grünhuts 8# 9, 1 fj
bleme d. Staatsrechtslehre 491 f.
#§ 2. Der historische Ausgangspunkt. Se wohl
die Teilung der Gewalten in Gesetzgebung, Justiz
und Verw, als auch die Differenzierung von
Privatrecht und VerwfRR ist den gemeinsamen
Ausgangspunkten der drei Staaten fremd.
I. Der Gedanke der Einartigkeit
alles Rechts wurzelt tief in den Grund-
anschauungen des Mittelalters und findet seinen
prägnanten Ausdruck in der Tatsache, daß es
keine zwischen Privat= und öffentlichem Recht
differenzierenden Formen der Erwerbung, Ver-
äußerung, Sicherung und Verwirklichung von
Rechten gibt, daß insbesondere eine sachliche Be-
schränkung der gerichtlichen Zuständigkeit dem
Mittelalter durchaus unbekannt ist: Recht und
Gerichtsschutz sind unzertrennliche Begriffe. Alle
Rechtsverhältnisse enthalten ungesondert Ele-
mente, die wir in privat= und öffentlich-rechtliche
zu sondern pflegen. Die Hoheitsrechte haben zu-
gleich „den Nebenzweck veräußert zu werden“,
und solche durch Verträge oder Privilegien erfol-
gende Veräußerungen sind „ein direktes Mittel
der Führung der Regierung" (v. Below). Auf
der anderen Seite enthalten die rein genossen-
schaftlichen Rechtsbeziehungen Gleichgeordneter zu-
gleich soziale und publizistische Gedankenelemente.
Das Recht differenziert sich nach einzelnen sach-
lichen und personellen Kreisen in Landrecht, Lehn-
recht [/I, Dienstrecht, Hofrecht, Stadtrecht usw.;
aber innerhalb jedes dieser Rechtskreise bleibt der
heutige Gegensatz von privatem und öffentlichem
Recht unvollzogen, enthält jedoch zugleich „Keim
und Möglichkeit von beidem“ (Otto
v. Gierke). Die Entstehung des common law in
England verhindert zwar die Spaltung in
Sonderrechtskreise, dieses ist aber selbst auch eine
einheitliche indifferenzierte Rechtsmasse.
Danach ist es juristisch nicht angängig, in dem
die alten Gewalten vielfach zersetzenden Lehn-
recht nur die privatrechtlichen, in dem daneben
fortlebenden Landrecht nur die publizistischen
Elemente zu betonen. Die dem Landesherrn ge-
zahlten „Beden“ sind nicht rein publizistische
Steuern im Gegensatz zu rein privatrechtlichen
grundherrlichen Abgaben. Die durch Verträge be-
gründeten Pflichten sind ebensowenig rein privat-
rechtliche wie die auf objektivem Recht ruhenden
Heeres-, Gerichts-, Polizeidienst= und Steuer-
pflichten rein publizistische sind, — besteht doch
ein scharfer Gegensatz zwischen objektivem und
subjektivem Recht, zwischen Gesetz und Rechts-
geschäft, Recht und Freiheit, Gesetz und Einung
noch gar nicht, und ist der Vertrag nicht etwa ein
rein privatrechtliches, sondern vielmehr ein uni-
verselles, der gesetzlichen Bindung an Kraft
keineswegs unterlegenes Rechtsinstitut. Wo man
das Reichsgut von dem des Kaisers trennt, scheidet
man nicht eine publizistische Sphäre von einer
privaten, sondern zwei Sphären, von denen jede
beide Elemente umfaßt.
Natürlich ist für den historischen Betrachter auch
im Mittelalter stets ein „Staat“ mit „Gemein-
schafts zwecken“, sind stets „öffentliche Gewalten"“
vorhanden gewesen; auch hat natürlich der Rechts-
begriff des Königs und der Königsrechte einen
eigenen juristischen Inhalt gehabt. Aber diese
Phänomene haben sich nicht in den Formen einer
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Kelsen, Hauptpro-