Verwaltung, Verwaltungsrecht
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wurden zugleich diese Begriffe, als absolutischer
Herkunft, für unvereinbar mit der englischen Frei-
heit gehalten: so wurde in Anknüpfung an die
durch den Absolutismus nie ganz vernichteten An-
schauungen des Mittelalters die gesamte Staats-
tätigkeit wieder in die Formen der jurisdiction
gekleidet loben § 2 II). Dem englischen Recht des
18. und der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts feh-
len daher die administrative Ueberordnung der
Zentralinstanz über die Lokal Verw sowie alle
Mittelinstanzen und damit ein eigentliches Verw R.
Gesetzgebung, Justiz und Aufsicht sind die Kate-
gorien, in denen sich die innere Verw Englands
vollzog.
Erst infolge der mit dem Utilitarismus und
Rationalismus Benthams einsetzenden neuen und
namentlich infolge der neuesten kollektivistischen
Entwicklung, über deren Bedeutung und Tragweite
man sich in England selbst noch keineswegs völlig
klar ist, vollzieht sich eine immer stärkere „Kon-
tinentalisierung“: das klassische seligovernment ist
erschüttert; neue Verw Behörden in der LoNkalin-
stanz verdrängen die alten; korporative Kommunal=
verbände sind entstanden; eine direkte VerwkKon-
trolle durch die neuen Zentralbchörden wird an-
gebahnt; selbständige Entscheidungsgewalten von
Verw Behörden unter Ausschluß der Zuständigkeit
der ordentlichen Gerichte und eine von den Formen
der jurisdiction emanzipierte Verwätigkeit („ad--
ministrative business“) gewinnen immer breiteren
Raum. Und damit ist auch in England der Be-
griff der Verw und des Verwz entstanden.
III. In entgegengesetzten Bahnen hat sich die
Entwicklung in Frankreich vollzogen. Hier
war zwar das absolutistische VerwR am frühesten
und intensivsten in einer für den ganzen Konti-
nent exemplarischen Weise ausgebildet; ander-
seits aber war es dem Absolutismus nicht ge-
lungen, die immer wieder auflebende unbequeme
Macht der parlements mit ihrem droit d’enre-
gistrer, de remonstrances, de statuer endgültig
u brechen. So war hier der konstitutionelle Ge-
setesbegrif, den die Revolution brachte, von
ganz besonders klärender und vereinheitlichender
Bedeutung: er brachte die Vollendung des uni-
fizierenden und zentralisierenden allmächtigen
Staatswillens, den der monarchische Absolutismus
aufzurichten versucht hatte, und zugleich die von
der konstitutionellen Theorie erstrebte Begründung
der Herrschaft des Gesetzes, den Rechtsstaat.
Daher zerstörte die französische Revolution
nicht wie die englische die Errungenschaft des
Absolutismus, die Begriffe Verw und VerwR,
sondern sie übernahm sie, baute sie aus und
gliederte sie in eigenartiger Weise dem neuen
System ein. Sie ließ nicht wieder den Begriff
der Verw in dem der jurisdietion untergehen,
sondern begnügte sich damit, die Verw durch
Unterordnung unter das konstitutionelle Gesetz
„justizmäßig“ zu gestalten, schuf ihr einen eigenen
großartigen Organismus und stellte diesen koordi-
niert neben den der Justiz. Die Justiz wurde
von allen Einflüssen unabhängig gestellt, auf
die Handhabung des Zivil- und Strafrechts (von
dem die Verw ausgeschlossen wurde) beschränkt
und jeder Kontrolle über die Verw beraubt,
der Verw vielmehr die Möglichkeit gegeben, aus
dem eigenen Organismus die nötigsten Rechts-
schutzgarantien zu entwickeln. Auf diese Weise
wurde wiederum die materielle Grenzschei-
dung von Justiz und Verw, die der Absolutis-
mus angebahnt hatte, beibehalten, ausgebaut und
vollendet, und zugleich dieser Gegensatz zu
dem zweier formeller Hoheitsrechte, die
beide unter dem Vorrang des Gesetzes stehen,
ausgeprägt.
So ist hier das erstemal sowohl der Rechts-
begriff der Verw wie der eines Verw ent-
standen.
Zur allgemeinen Orientierung über die konstitutionelle
Theorie: v. Gierke, Joh. Althusius"; Genossenschaftsrecht
Bd. IV; G. Jellinek, Gesetz und Verordnung; E. v.
Meier, Französische Einflüsse auf die Staats= und Rechts-
entwicklung Preußens 1, 1f. — Ueber England und Frank-
reich: Hatschek, Enuglische Verf Geschichte 45 27, 33, 34,
48; Köllreutter, Verwr und Verwzechtsprechung im
modern. Engl.; O. Mayer böf; Fleiner 10; E. v.
Meier, Französische Einflüsse 1, 75 #ff Loening
in Hartmanns 8Z 5, 355 f; Redslob, Die Staats-
theorien der französischen Nationalversammlung.
6. Die deutsche Entwicklung. Durchaus
selbständige Bahnen hat Preußen einge-
schlagen. Der Absolutismus faßte hier erst sehr
viel später Boden und befand sich im Bunde
mit den vorwärtsdrängenden „aufgeklärten“ Ten-
denzen der Zeit, so daß ihm zahlreiche Errungen-
schaften zu danken sind, die in Frankreich erst
die Revolution und in England die jüngste Zeit
gebracht hat, und eine wirkliche Revolution uns er-
spart geblieben ist. In den süddeutschen
Mittelstaaten sah es der Absolutismus des 19.
Jahrhunderts geradezu als seine Aufgabe an, die
Errungenschaften der französischen Revolution zur
Geltung zu bringen.
I. Der Gedanke der Einheitlichkeit und In-
differenziertheit alles Rechts (vgl. oben ## 2 1)
hatte bei uns besonders tiefe Wurzeln geschlagen,
weil die Macht des Kaisers nicht ausgereicht
hatte, ihm eine wirkliche Emanzipation aus dem
gemeinen Recht zu verschaffen (keine Erblichkeit,
Wahlkapitulationen, Absetzbarkeit): man sah in
ihm wie im Papsttum „eine von fernher wirkende,
hauptsächlich in der Idee beruhende Macht“",
keine reale oberste Zentralgewalt (vogl. Ranke,
Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation ?
1, 33f). Und die Landeshoheit, aus der der
deutsche Staat erwachsen ist, unterstand der
Oberhoheit des Reiches, die sich, der Auffassung
vom Kern der öffentlichen Gewalt entsprechend
(vgl. oben #2 11), in dessen Gerichtsbarkeit doku-
mentierte.
Diese Landeshoheit war überhaupt noch keine
einheitliche öffentliche Gewalt, sondern ein Bün-
del einzelner, aus verschiedenen Rechtstiteln
stammender wohlerworbener Rechte, denen wohl-
erworbene Gegenrechte der Untertanen und
Korporationen von gleicher Kraft gegenüber-
standen. Und zum Schutze dieser Rechte und
Gegenrechte, für die noch die Ungesondertheit
von privatem und öffentlichem Recht wesentlich
war, bestanden die Reichsgerichte mit ihrer al-
ten, höchstens durch das Recht auf „Austräge“,
aber letztlich sachlich nicht beschränkten Zuständig-
keit. Nur in dem unter den landesherrlichen
Rechten enthaltenen ius eminens bricht sich be-
reits eine andere Auffassung vom Staate Bahn.
II. Es bedeutet bereits eine gewisse Differen-
zierung innerhalb dieser einheitlichen Rechts-