Full text: Wörterbuch des Deutschen Staats- und Verwaltungsrechts. Dritter Band. O bis Z. (3)

  
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masse und eine gewisse Verselbständigung des 
VerwR, wenn es in 8. 106 des Jüngsten 
Reichsabschiedes heißt: „Wenn Sachen, die 
bey einem Stande insgemein eingeführter Polizey, 
Zunft- und Handwerksordnungen anhangen, durch 
Appellation an Unser Kays. und heil. Reichs Cam- 
mergericht gezogen werden wollen, daß der Rich- 
ter, ehe er den Prozeß erkennt, jedes Orts Obrig- 
keit, und des status publici mit einlaufendes 
Interesse, mit seinen Umständen wohl erwege, 
fürnehmlich aber in dergleichen Sachen keine 
Inhibition leichtlich erkenne.“ 
In Weiterbildung solcher Gedanken bildet sich 
der das ganze 18. Jahrhundert beherrschende 
Gegensatz von Justiz= und Polizeiloder 
Regierunggs)sachen aus, der naturgemäß in 
den Territorien, welche privilegia de non ap- 
pellando besaßen oder sich mit Gewalt der Reichs- 
gerichtsbarkeit und -Exekution zu entziehen ver- 
mochten, von durchschlagender Bedeutung wurde, 
und schließlich dahin zugespitzt wurde, daß es „in 
Polizeisachen keine Appellation“ an die Gerichte 
ibt. 
Gegen diese Emanzipation des Verw K von 
der gerichtlichen Kontrolle reagieren aber, ganz 
ähnlich wie die common law-Juristen Englands 
und die französischen Parlamente, die an der 
Einheitlichkeit alles Rechts festhaltenden Kreise, 
in Preußen namentlich die Justizminister. Ihre 
Bestrebungen liefen darauf hinaus, die Justiz 
zu einem wirklichen formellen Hoheitsrecht zu 
machen. So kam es denn auch bei uns zu hef- 
tigen Ressortkonflikten; sie haben aber nie die 
frondistischen Formen der französischen Par- 
lamentskämpfe oder die der durch religiöse Ge- 
gensätze bestimmten englischen Revolution an- 
genommen. Man fand vielmehr eine Lösung 
in der Entwicklung der Lehre, wie aus einer 
(materiellen) Polizeisache eine (materielle) Ju- 
stizsache, eine justizmäßige Polizeisache werden 
könne (vgl. noch v. Berg, HB des teutschen 
Polizeirechts Bd. I, 1802, S 144 f). Friedrich 
der Große schuf in dem Kampfe zwischen Ge- 
neraldirektorium und Großkanzler, eine erste 
bedeutsame legislatorische Lösung in dem Ressort- 
reglement von 1749, das als ein „Staatsgrund- 
gesetz“ angesehen und gefeiert wurde. Bei der 
tatsächlichen Zurückhaltung, die die Könige sich 
gegenüber der Tätigkeit der Gerichte normaler- 
weise auferlegten, wurde so bereits zur Zeit des 
Absolutismus der Gedanke des Rechtsstaates eine 
wenigstens praktische Realität. Die Kategorien, 
in denen sich die innere Verw bei uns vollzog, 
sind daher sehr viel komplizierter als in England: 
Gesetzgebung, Aufsicht, Vollziehung als „allge- 
meine“ oder „formelle“ Hoheitsrechte, und Ju- 
stiz-, Polizei= und Finanzgewalt als „besondere 
oder materielle Hoheitsrechte“. (Vgl. Pütter, 
Elcmenta iuris publici germanici: S 315f; 
Klüber, Oeffentl. R. d. deutsch. Bundes S 112# 
und XXIX;: Zoepfl, Grundsätze des gemeinen 
dt. StR" 1, 764 f; Zachariae, Deutsch. Staats- 
und Bundes R. 1, 72 f.) 
Fehlte auch theoretisch der einheitliche Gesetzes- 
begriff, so erhielt er doch einen wichtigen prakti- 
schen Ersatz durch die Idee der Kodifikation, 
deren Bedeutung in diesem Zusammenhang nicht 
gut überschätzt werden kann. Jusbesondere dadurch, 
daß die mit der Kodifikation des Allgemeinen 
  
Verwaltung, Verwaltungsrecht 
Landrechts betrauten justizministeriellen Perso- 
nen sich trotz aller dagegen erhobenen Bedenken. 
nicht abhalten ließen, außer dem Privat= und 
Strafrecht, auch diejenigen Partien des Staats- 
und allgemeinen Polizeirechts in ihre Arbeit 
hineinzuziehen, die „den Gegenstand richterlicher 
Erkenntnisse ausmachen“ (vgl. Gesetz-Revision. 
Pens. XII S 87/8). J 87 Einl. und § 32 I 8 
brachten den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der 
Verw zum Ausdruck; und wäre das erstrebte 
Verbot von Machtsprüchen erreicht worden, so 
wäre dadurch wenigstens die der Justiz zuge- 
kehrte Seite des konstitutionellen Ge- 
setzesbegriffes bereits damals verwirklicht und 
die Justiz zu einem nicht nur der Verw, sondern 
auch der Gesetzgebung gegenüber selbständigen for- 
mellen Hoheitsrecht ausgestaltet worden. 
Die große Reformgesetzgebung brachte dann in 
der V v. 26. 12. 08 außer der Aufhebung der 
Attributivjustiz nicht nur die formelle Trennung 
von Justiz und Verw in der Provinzialinstanz, son- 
dern auch eine Normierung ihres materiellen Ver- 
hältnisses im Sinne einer Zuständigkeit der Gerichte 
in Verw'(Polizei= und Finanz-) achen, die, ohne 
in die englische Auflösung des Verw zu ver- 
fallen, als Verwirklichung des Rechtsstaates in 
der Form des Justizstaates hätte gelten können, 
wenn der Gesetzesbegriff eine formelle Verselb- 
ständigung besessen hätte. An der obersten 
Spitze des Staates blieb aber juristi sch 
die absolutistische Gewaltenverein i- 
gung gewahrt, wenn auch praktisch von ihr 
meist nur schonender Gebrauch gemacht wurde. 
III. Die berechtigte, oder zum mindesten 
begreifliche Reaktion der Verwessorts gegen 
ihre Unterordnung unter die doch wesentlich 
zivilistisch und kriminalistisch geschulten ordent- 
lichen Gerichte (vgl. die Entscheidungen, von 
denen Anschütz Verw'rch 5, 74 berichtet) brachte 
dann zwar durch Gesetze und von franzö- 
sischen Auffassungen beeinflußte Inter- 
pretationskünste eine immer reiner durchgeführte 
Beschränkung der Gerichte auf das Pri- 
vat= und Strafrecht und den Rechtsschutz der 
Verw durch den eigenen (noch vielfach kollegialen) 
Organismus, über dessen Qualität auch in ju- 
ristischer Hinsicht die Publikation von Kamptz" An- 
nalen der inneren Verw ein wohl im Ganzen 
nicht ungünstiges Bild bietet. In den Mitte l- 
staaten brachte der Absolutismus — unter 
Ueberspringung der preußischen justizstaatlichen 
Richtung — unmittelbar die französischen Prin- 
zipien in enger Anlehnung an die Revolutions- 
gesetzggebung zur Geltung, so daß in ihnen als 
Errungenschaft erscheint, was in Preußen viel- 
fach als Rückschritt empfunden wurde. Tro 
dem sind nir — auch in den Mittelstaaten — 
durch diese Entwicklung nicht eigentlich zu den 
geschilderten französischen Rechtszuständen ge- 
kommen, weil die Abgrenzung zwischen Privat- 
und Verw bei uns eine andere geblieben ist, 
als sie dort von dem Absolutismus und der Re- 
volution vorgenommen worden war: uns blieb 
die Kategorie des speziellen Rechtstitels und der 
weite Fiskusbegriff I“I, der den Staat in 
allen vermögensrechtlichen Fragen und damit auch 
für Schadensersatzansprüche, dem bürgerlichen 
Fücht und den Gerichten unterstellt: vgl. unten
	        
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