694
masse und eine gewisse Verselbständigung des
VerwR, wenn es in 8. 106 des Jüngsten
Reichsabschiedes heißt: „Wenn Sachen, die
bey einem Stande insgemein eingeführter Polizey,
Zunft- und Handwerksordnungen anhangen, durch
Appellation an Unser Kays. und heil. Reichs Cam-
mergericht gezogen werden wollen, daß der Rich-
ter, ehe er den Prozeß erkennt, jedes Orts Obrig-
keit, und des status publici mit einlaufendes
Interesse, mit seinen Umständen wohl erwege,
fürnehmlich aber in dergleichen Sachen keine
Inhibition leichtlich erkenne.“
In Weiterbildung solcher Gedanken bildet sich
der das ganze 18. Jahrhundert beherrschende
Gegensatz von Justiz= und Polizeiloder
Regierunggs)sachen aus, der naturgemäß in
den Territorien, welche privilegia de non ap-
pellando besaßen oder sich mit Gewalt der Reichs-
gerichtsbarkeit und -Exekution zu entziehen ver-
mochten, von durchschlagender Bedeutung wurde,
und schließlich dahin zugespitzt wurde, daß es „in
Polizeisachen keine Appellation“ an die Gerichte
ibt.
Gegen diese Emanzipation des Verw K von
der gerichtlichen Kontrolle reagieren aber, ganz
ähnlich wie die common law-Juristen Englands
und die französischen Parlamente, die an der
Einheitlichkeit alles Rechts festhaltenden Kreise,
in Preußen namentlich die Justizminister. Ihre
Bestrebungen liefen darauf hinaus, die Justiz
zu einem wirklichen formellen Hoheitsrecht zu
machen. So kam es denn auch bei uns zu hef-
tigen Ressortkonflikten; sie haben aber nie die
frondistischen Formen der französischen Par-
lamentskämpfe oder die der durch religiöse Ge-
gensätze bestimmten englischen Revolution an-
genommen. Man fand vielmehr eine Lösung
in der Entwicklung der Lehre, wie aus einer
(materiellen) Polizeisache eine (materielle) Ju-
stizsache, eine justizmäßige Polizeisache werden
könne (vgl. noch v. Berg, HB des teutschen
Polizeirechts Bd. I, 1802, S 144 f). Friedrich
der Große schuf in dem Kampfe zwischen Ge-
neraldirektorium und Großkanzler, eine erste
bedeutsame legislatorische Lösung in dem Ressort-
reglement von 1749, das als ein „Staatsgrund-
gesetz“ angesehen und gefeiert wurde. Bei der
tatsächlichen Zurückhaltung, die die Könige sich
gegenüber der Tätigkeit der Gerichte normaler-
weise auferlegten, wurde so bereits zur Zeit des
Absolutismus der Gedanke des Rechtsstaates eine
wenigstens praktische Realität. Die Kategorien,
in denen sich die innere Verw bei uns vollzog,
sind daher sehr viel komplizierter als in England:
Gesetzgebung, Aufsicht, Vollziehung als „allge-
meine“ oder „formelle“ Hoheitsrechte, und Ju-
stiz-, Polizei= und Finanzgewalt als „besondere
oder materielle Hoheitsrechte“. (Vgl. Pütter,
Elcmenta iuris publici germanici: S 315f;
Klüber, Oeffentl. R. d. deutsch. Bundes S 112#
und XXIX;: Zoepfl, Grundsätze des gemeinen
dt. StR" 1, 764 f; Zachariae, Deutsch. Staats-
und Bundes R. 1, 72 f.)
Fehlte auch theoretisch der einheitliche Gesetzes-
begriff, so erhielt er doch einen wichtigen prakti-
schen Ersatz durch die Idee der Kodifikation,
deren Bedeutung in diesem Zusammenhang nicht
gut überschätzt werden kann. Jusbesondere dadurch,
daß die mit der Kodifikation des Allgemeinen
Verwaltung, Verwaltungsrecht
Landrechts betrauten justizministeriellen Perso-
nen sich trotz aller dagegen erhobenen Bedenken.
nicht abhalten ließen, außer dem Privat= und
Strafrecht, auch diejenigen Partien des Staats-
und allgemeinen Polizeirechts in ihre Arbeit
hineinzuziehen, die „den Gegenstand richterlicher
Erkenntnisse ausmachen“ (vgl. Gesetz-Revision.
Pens. XII S 87/8). J 87 Einl. und § 32 I 8
brachten den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der
Verw zum Ausdruck; und wäre das erstrebte
Verbot von Machtsprüchen erreicht worden, so
wäre dadurch wenigstens die der Justiz zuge-
kehrte Seite des konstitutionellen Ge-
setzesbegriffes bereits damals verwirklicht und
die Justiz zu einem nicht nur der Verw, sondern
auch der Gesetzgebung gegenüber selbständigen for-
mellen Hoheitsrecht ausgestaltet worden.
Die große Reformgesetzgebung brachte dann in
der V v. 26. 12. 08 außer der Aufhebung der
Attributivjustiz nicht nur die formelle Trennung
von Justiz und Verw in der Provinzialinstanz, son-
dern auch eine Normierung ihres materiellen Ver-
hältnisses im Sinne einer Zuständigkeit der Gerichte
in Verw'(Polizei= und Finanz-) achen, die, ohne
in die englische Auflösung des Verw zu ver-
fallen, als Verwirklichung des Rechtsstaates in
der Form des Justizstaates hätte gelten können,
wenn der Gesetzesbegriff eine formelle Verselb-
ständigung besessen hätte. An der obersten
Spitze des Staates blieb aber juristi sch
die absolutistische Gewaltenverein i-
gung gewahrt, wenn auch praktisch von ihr
meist nur schonender Gebrauch gemacht wurde.
III. Die berechtigte, oder zum mindesten
begreifliche Reaktion der Verwessorts gegen
ihre Unterordnung unter die doch wesentlich
zivilistisch und kriminalistisch geschulten ordent-
lichen Gerichte (vgl. die Entscheidungen, von
denen Anschütz Verw'rch 5, 74 berichtet) brachte
dann zwar durch Gesetze und von franzö-
sischen Auffassungen beeinflußte Inter-
pretationskünste eine immer reiner durchgeführte
Beschränkung der Gerichte auf das Pri-
vat= und Strafrecht und den Rechtsschutz der
Verw durch den eigenen (noch vielfach kollegialen)
Organismus, über dessen Qualität auch in ju-
ristischer Hinsicht die Publikation von Kamptz" An-
nalen der inneren Verw ein wohl im Ganzen
nicht ungünstiges Bild bietet. In den Mitte l-
staaten brachte der Absolutismus — unter
Ueberspringung der preußischen justizstaatlichen
Richtung — unmittelbar die französischen Prin-
zipien in enger Anlehnung an die Revolutions-
gesetzggebung zur Geltung, so daß in ihnen als
Errungenschaft erscheint, was in Preußen viel-
fach als Rückschritt empfunden wurde. Tro
dem sind nir — auch in den Mittelstaaten —
durch diese Entwicklung nicht eigentlich zu den
geschilderten französischen Rechtszuständen ge-
kommen, weil die Abgrenzung zwischen Privat-
und Verw bei uns eine andere geblieben ist,
als sie dort von dem Absolutismus und der Re-
volution vorgenommen worden war: uns blieb
die Kategorie des speziellen Rechtstitels und der
weite Fiskusbegriff I“I, der den Staat in
allen vermögensrechtlichen Fragen und damit auch
für Schadensersatzansprüche, dem bürgerlichen
Fücht und den Gerichten unterstellt: vgl. unten