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Verwaltungsgerichtsbarkeit (Allgemeines)
der Strafrechtsprechung. Die Aehnlichkeit geht
indes bei den verschiedenen Funktionen, die man
unter den Begriff V. subsumiert, verschieden
weit und danach ergeben sich mehrere Arten von
V. Am engsten lehnen sich an einen Zivilprozeß
diejenigen VerwzRechtsstreitigkeiten an, bei denen
sich zwei dem Staat untergeordnete unter
sich gleiche Parteien gegenüber stehen,
wenn z. B. zwei Gemeinden über die Vertei-
lung von Schul= oder Wegebaulasten, von Ar-
menkosten und dergl. streiten. Gegenstand des
Streits sind hier wie in einem Zivilprozeß geld-
werte Leistungen, zu entscheiden ist nach Rechts-
grundsätzen über Rechte und Pflichten zweier
Parteien, denen gegenüber der Staat als der
übergeordnete der gegebene Richter ist; weil aber
diese Rechtsverhältnisse öffentlich-rechtlicher Na-
tur sind, erscheinen Organe der Verwaltung mehr
als Organe der Justiz zu ihrer Schlichtung be-
rufen und tatsächlich gehörte die Entscheidung
von solchen Streitigkeiten von jeher zu den Ob-
liegenheiten der VerwBehörden. Ausübung von
V. werden wir sie aber erst dann nennen, wenn
das Verfahren, in dem sie vor sich geht, die Min-
destanforderungen eines jeden gerichtlichen Ver-
fahrens erfüllt und als solche wird man (mit
Otto Mayer VR UL. S 140, 169) die betrachten
können, daß den Parteien eine maßgebende
Mitwirkung in dem Verfahren eingeräumt und
daß der ergehenden Entscheidung Rechtskraft
beigemessen wird. Ein solches Verfahren ist für
Streitigkeiten dieser Art, die man mit dem
Ausdruck administrativ-kontentiöse Sachen in
erster Linie meinte, schon in der ersten Hälfte
des 19. Jahrh. in mehreren deutschen Staaten
eingeführt gewesen (s. & 2) und diese Institu-
tionen bilden eine der Wurzeln der heutigen
V. Gleich behandelt wie die erwähnten wurden
meist solche Fälle, in denen der Streit zwischen
einem Privaten und einer Gemeinde (z. B. über
eine Gemeindesteuerforderung) oder sonst zwi-
schen zwei einander nicht gleichstehen-
den, dem Staate aber unterge-
ordneten Personen (höherer und niederer
Kommunalverband) sich abspielt. Bei beiden
Arten sind die Streitenden dem Staate unter-
gebene Rechtssubjekte, von ihm aus gesehen sind
es „Parteistreitigkeiten" und unter
diesem Ausdruck werden sie von einer Gruppe
von Gesetzgebungen (namentlich Württemberg
und Sachsen, bis zu einem gewissen Grade auch
Baden und Bayern) heute noch zusammenge-
faßt und einem eigenen Verfahren unterworfen,
das sich besonders eng an den Zivilprozeß an-
ehnt.
Von ihnen unterscheiden diese Gesetzgebungen,
scharf namentlich Württemberg und Sachsen,
als Fälle der „Rechtsbeschwerde“ oder „An-
fechtungsklage ' dieienigen, in denen die
von einer staatlichen Behörde an einen einzelnen
oder eine Korporation erlassene Verfügung an-
gesochten wird, der Streit sich also zwi-
schen dem Staat selbst und einem
ihm untergecordneten Rechtsff#b-
jekt abspielt. Es ist weniger selbstverständlich,
bedeutet vielmehr die Verwirklichung eines be-
sonderen Gedankens, auch den Staat selbst und
zwar als Inhaber der öffentlichen Gewalt der
Rechtsprechung von Gerichten zu unterwerfen,
die notwendig innerhalb des Staatsorganismus
stehen müssen, die öffentliche Gewalt also mehr
oder weniger auf eine Stufe mit den Gewalt-
unterworfenen zu stellen und diese Art von B.
ist es daher auch, die allein als besondere Er-
rungenschaft betrachtet werden kann und die in
der Tat das Ergebnis der rechtsstaatlichen Strö-
mung der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts
ist. Sie ist in moderner Form zuerst in Baden
durch das OrgG v. 1863 verwirklicht worden,
dem in den 70er Jahren dann Preußen
(Oesterreich 1875), Württemberg (1878),
Bayern (1878) und seither die meisten
anderen Bundesstaaten folgten (Zu-
sammenstellung s. 8 2).
## 2. Entwicklung der Verwaltungsgerichts-
barleit in Deutschland. Man betrachtet die V.
als durchaus moderne, über das badische Gesetz
von 1863 nicht zurückreichende Einrichtung und
pflegt insbesondere ihre Kontinuität mit den
ähnlichen Zwecken dienenden Einrichtungen im
alten Reich (Zuständigkeit der beiden Reichs-
gerichte in Landeshoheitssachen) zu leugnen.
Ganz richtig ist dies indes nur für Preußen,
nicht dagegen auch für die anderen Staaten, für
welche zum Teil die Unterordnung unter die
Reichsgerichtsbarkeit auch im 18. Jahrhundert
nicht alle Bedeutung verloren hatte und in
denen nach Errichtung der Verfassungen die
Fortbildung des öffentlichen Rechts in diesem
wie in anderen Punkten an die Zustände im
alten Reich anknüpfen konnte. Eine Nachwirkung
der Idee der gerichtlichen Kontrolle der Verwal-
tung von der Zeit des alten Reiches her ist ins-
besondere nachgewiesen für Kurhessen und
Württemberg. In beiden Staaten be-
trachteten sich nach dem Untergang des alten Rei-
ches die obersten Zivilgerichte als Nachfolger der
Reichsgerichte auch in deren Funktion als Kon-
trolle der Staatsgewalt und sie suchten daher
Akte der Verwaltung (in Kurhessen auch solche
der Gesetzgebung) auf ihre Rechtmäßigkeit zu
prüfen. Während das Ober-Appellationsgericht
in Kassel damit durchdrang und infolgedessen
bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts dort eine
wirksame Justizkontrolle über die Verwaltung
tatsächlich bestand, wies der König von Würt-
temberg ähnliche, während der absoluten Re-
gierungsperiode (1806—1819) zutage tretende
Versuche des obersten württ. Landesgerichts,
„in seine Souveränitäts= und Regierungsrechte“
sich einzumischen, zurück; die württembergischen
VerfEntwürfe von 1816 und 1817 aber trugen
dieser Jdee dann doch weitgehend Rechnung,
indem sie für den Fall, daß „Staatsbürger oder
Korporationen Beschwerden durch falsche An-
wendung der Normen des öffentlichen Rechts
zugefügt werden“, letztinstanzlich die Möglichkeit
der Anrufung der zentralen ordentlichen Ge-
richte vorsahen. Diese Bestimmungen wurden
jedoch nicht Gesetz. In der Vul v. 25. 9. 1819
trat an ihre Stelle 3 60 Ziff. 1, wonach auf
allen Gebieten der Verwaltung der Geheime
Rat über Rekurse gegen Entscheidungen der
Minister entscheiden sollte und zwar unter Zu-
ziehung der zwei Vorstände des Obertribunals.
Diese Beschwerdeentscheidungstätigkeit des ver-
stärkten Geheimen Rats ist in der Folge zu ver-
waltungsgerichtsähnlicher Kontrolle über die ganze