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Verwaltungsgerichtsbarkeit (Reich)
ist (für die Konsulargerichtsbezirke und die Schutz-
gebiete, unten 5 5), nur als Notbehelf zu betrachten.
Erst allmählich, jedoch nicht Schritt haltend mit
der Entwicklung der Verwaltung und VerwBehör-
den von Reichs wegen und der Ausbreitung von
reichsrechtlichen Grundlagen für die Verwaltung
im Reiche, wurde dem Bedürfnisse nach einer
verwaltungsgerichtlichen Aufsicht nachgegeben —
in unterschiedlicher Weise.
##2. Einwirkung auf die Verwaltungsrechts-
pflege in den Einzelstaaten.
I. Zeitlich voran geht eine reichsrechtliche Be-
einflussung der Landesverwaltung im Sinne und
als Hebel einer Landesverwaltungsrechtspflege
unter Zurückdrängen des Rechtswegs [Fl. Sie
hat eine wechselnde Ausgestaltung erfahren:
1. Die Gewerbeordnung S§ 20, 21 u. a.
stellen für das Verfahren bei Genehmigung ge-
werblicher Anlagen, Zurücknahme der Genehmi-
gung u. a. gewisse Mindesterfordernisse auf
IX Band II, 251), ohne eine völlige Unabhängig-
keit der entscheidenden Organe zu gewährleisten:
Umgrenzung der Parteien; Entscheidung durch
eine kollegiale Behörde in erster oder zweiter
Instanz; Mündlichkeit und Oeffentlichkeit (Aus-
schluß der Oeffentlichkeit nach den Vorschriften
des Gerichtsverfassungsgesetzes: Nov. v. 1883);
Rekurs binnen 14 Tagensschriftlicher Rekurs-
bescheid mit Gründen.
Diese Normen der Gewerbeordnung wurden
in der Folge typisch verwendet, in erster Linie als
Rechtsbehelf gegen Eingriffe in das Recht von
Vereinigungen (Nichtzulassung, Auflösung) oder
gegenüber Körperschaften. Sah noch das B v.
4. 7. 68 über die Erwerbs= und Wirtschaftsgenossen-
schaften § 35 die Auflösung durch ein gerichtliches
Erkenntnis vor, so änderte dies das RG über
die Erwerbs= und Wirtschaftsgenossenschaften v.
1. 5. 89 & 79 in die Bezugnahme auf §5 20, 21
GewO (einen Rückfall in die Zuständigkeit der
ordentlichen Gerichte zeigt das Roe über die Ge-
sellschaften m. b. H. v. 20. 4. 92 § 62). Schon in
dem R über die eingeschriebenen Hilfskassen
v. 7. 4. 76 §#§ 4 Abs 2, 29 Abs 2, dann in den
Arbeiterversicherungsgesetzen — sämtlich jetzt auf-
gehoben —, im BGB F§ 44, 62, 71 und im
RNVereins G v. 19.4. 08 8§82 Abs?2, 15, im RGüber
die privaten Versicherungsunternehmungen v.
12. 5. 01 &+ 84, im R über den Verkehr mit
Kraftfahrzeugen v. 3. 5. 09 §§ 5, im Stellenver-
mittlungsgesetz v. 2. 6. 10 5 10, ein Reichs= u.
StaatsangehörigkeitsG v. 22. 7. 13 5 40 (vom
Reichstag eingefügt) werden §§ 20, 21 Gew0O mit
gewissen Maßgaben für anwendbar erklärt. Seit
den 80er Jahren geschieht das übrigens nur für
den Fall, daß es landesrechtlich an einem Verw-
Streitverfahren fehlen sollte, so daß dieses vom
Reichsrechte als erwünscht primär festgelegt wird.
2. In einzelnen Fällen trifft das Reichsrecht
auch sonst Bestimmungen für das Verfahren der
unteren Landesinstanzen im Sinne einer Stärkung
des Rechtsschutzes durch Mittel verwaltungsge-
richtlicher Art, wie in Armensachen (55 38—40 RG#
über den Unterstützungswohnsitz).
3. In andern Fällen hat das Reich ein Verw-
Streitverfahren der Landesbehörden sogar bis in
das einzelne geregelt und damit den Behelf der
88 20, 21 GewoO überholt: so für die Secämter,
namentlich aber für die Versicherungsämter der
Reichsversicherungsordnung und den Rentenaus-
schuß der Angestelltenversicherung.
4. Eine Besonderheit dürfte sich mit dem Wei-
tergreifen der Beste uerung durch das Reich
herausbilden: die reichsrechtliche Gewährleistung
eines Verwtreitverfahrens oder doch eines
anderweit vor VerwG geordneten Verfahrens
oder, sei es subsidiär (wie nach Zuwachsste uer G
v. 14. 2. 11 §# 44), sei es alternativ (wie nach
Besitzsteuer G v. 3. 7. 13. 66), des ordentlichen
Rechtswegs.
II. Eine Art Kautelarverwaltungsjurisprudenz hat sich
in Zollsachen eingebürgert. Der mehrfachen An-
regung, an Stelle des bloßen Verw Weges für Tarif-
beschwerden (1 12 Vereinszoll G) das Verw Streitver-
sahren oder den Rechtsweg einzuführen, hat der B#
(Beschl v. 20. 1. 98, Renl 84) insoweit nachgegeben, als.
die Zolldirektivbehörden zu verbindlichen Auskünften in
Zolltarifsachen verpflichtet worden sind (ietzt Zolltarif G
v. 1902 5l 2). Internationale Rücksicht hat für Meinungs-
verschiedenheiten über rie Auslegung der Vertragstarife
den Vorbehalt eines Schiedsgerichts in die neueren Han-
delsverträge (1 Band II, 357), abgesehen von dem Ver-
trage mit Rußland, ausgenommen.
Resolution des RT. St Ber 1895/97 V Nr. 622 S 2917;
Trautvetter, Das neue deutsche Zolltarifrecht, 1905 S 200 f.
§ 3. Verwaltungsgerichtliche Instanzen des
Reiches.
1. Sie bestehen nur für einzelne besondere
Verwaltungszweige, nämlich: das
Bundesamt für das Heimatwesen
(1870) (AI, 204 I — die Reichsrayon-
kommission (1871) IXI, 761 — das (ver-
stärkte) Reichseise nbahnamt (1873)
[IXI, 6701— das Patentamt (1877) (&X III,
441 — das Oberseeamt (1877) IJ III, 3671,
— das Reichs versicherungsamt (1884)
XIII, 6791— das Kaiserliche Aufsichtsamt
für Privatversicherung (1901) I/ III,
685! — für die Angestelltenversiche-
rung: Schiedsgericht und Ober-
schiedsgericht (1913) (XIII, 1901.
Der Sitz all dieser Behörden ist in Berlin.
Dazu treten als Organe innerhalb der un-
mittelbaren Verwaltung des Reiches
(im folgenden nicht weiter berücksichtgt): für die
Reichsbeamten: Disziplinargerichte
[IJ Disziplin, Kolonialbeamte!] — die Prisen-
gerichte (R v. 3. 5. 84), entsprechend der
Kais. V v. 15. 2. 89 als Prisengerichte erster
Instanz und Oberprisengericht formiert — der
Bundesrat: für Kolonien und Konsular-
gerichtsbezirke (vgl. unten § 5).
Hierzu kommt: das Reichsgericht in
Patentsachen und zur Entscheidung von Streitig-
keiten zwischen Senat und Bürgerschaft in Ham-
burg nach R v. 14. 3. 81.
2. Diese Aemter suchen, wie sie nach und nach
aus den Bedürfnissen der einzelnen Verw Zweige
herausgewachsen sind, in ihrer Organisation und
in ihrem Verfahren den Anforderungen dieser
besonderen Verwaltungen zu dienen; sie fügen
sich deshalb nicht als einheitliche Glieder einem
Aufbau eigener Reichsverwaltungsgerichtsbarkeit
ein.
Ihre Zuständigkeit ist teils durch einen
Tatbestand mit zwischenstaatlichem Charakter be-
dingt (Heimatamt, Aufsichtsamt für Privatver-
sicherung), wenn auch durch das Landesrecht der