Ziehkinder — Zigeuner
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Dr. von Drygalski-Halle a. S., der ärztliche Forderungen
zur Organisation des Z.Wesens erhob, und Dr. Franz
Recke, der die örtliche Organisation des Z. Wesens besprach
(val. den Bericht über die Tagung. Zentralbl. für Bor-
mundschaftswesen 3, Nr. 19 S 233). Die Tagung endete
mit* der Einsetzung einer Kommission, welche die von den
Referenten ausgestellten Borschläge weiter bearbeiten
sollte. Die Kommission ist auch zu sehr detaillierten Bor-
schlägen gelangt, die im Zentralbl. für Bormundschafts-
wesen 4, Nr. 12 S 138 abgedruckt sind. Eine ausführliche
Bekanntgabe über die Tagung ist als Band I und Band I
der Veröffentlichungen der Preußischen Landeszentrale für
Säuglingsschutz, Berlin 1911, erschienen. Band 1 gibt den
Vorbericht und Materialien, zusammengestellt von Recke,
Band II den stenographischen Berhandlungsbericht. Die
größte Materialsammlung bietet das im Text schon ge-
nannte Handbuch: „Säuglingsfürsorge und Kinderschutz in
den europäischen Staaten“" von Keller--Klumker,
Band I1 (Berlin 1912) S 1206—1266, doch reicht diese
Sammlung nur bis März-Mai 1911. Das Handbuch gibt
auch Materialien über eine große Reihe außerdeutscher
Staaten, worauf hier nur hingewiesen sel. Grabotwskv.
Sigarettensteuer
LTabaksteuer 5 2 IV, 7 8.
Zigenner
#s 1. Allgemeines (Mißstände). 1 2. Bekämpfung.
5* 1. Allgemeines (Mißftände). Die Z. stam-
men wahrscheinlich aus Indien und sind auf ihren
Wanderzügen im Mittelalter nach Europa ge-
kommen, wo sie seitdem eine ständige Landplage
bilden. Es ist wohl ein Erfolg der behördlichen
und auch aus der Bevölkerung herausgewachsenen
Verfolgungen, daß sie nunmehr schon seit Jahr-
hunderten kein Volk im Volke mehr bilden. Sie le-
ben indessen in mehr oder minder starken Stämmen
noch heut ziemlich zahlreich in gewissen Staaten
des Ostens, namentlich in Ungarn und auf dem
Balkan und kommen in größeren Horden auch in
den Pyrenäen vor. In Deutschland sind sie etwa
im 15. Jahrhundert zahlreicher aufgetreten, ohne
sich indessen hier in ihrer Rassenreinheit zu erhal-
ten. Was abgesehen von den hin und wieder aus
den östlichen Ländern bei uns durchziehenden
Horden in Deutschland an Z. vorkommt, sind ent-
weder Mischlinge oder Landstreicher, die seit
Generationen die Lebensweise der Z. angenom-
men haben. Sie sind zur gleichen Landplage
wie die Rasse 3. geworden und sind in ihrer äußeren
Erscheinung, Lebensweise und Beschäftigungsart
von ihnen nicht zu unterscheiden. Deshalb richten
sich auch die polizeilichen Maßnahmen der ein-
zelnen Bundesstaaten nicht nur gegen die Z.,
sondern auch gegen die nach Z. Art umherziehen-
den Personen, die teilweise die deutsche Staats-
angehörigkeit besitzen und deshalb gegen manche
v. Stengel-Fleischmann, Wörterbuch. 2. Aufl.
Präventiv= und Regressivmaßregeln geschützt sind,
welcher der ausländische Z. unterliegt.
Die Ergreifung von strengen Maßnahmen ist
aber bei der bekannten Lebensweise und Führung
der Z. unvermeidlich. Sie leben vom Bettel und
Diebstahl und schrecken auch vor schweren Ver-
brechen nicht zurück, wenn es die Umstände er-
fordern. Indem sie hordenweise das Land durch-
ziehen, werden die Uebelstände des Landstreicher-
tums in potenzierter Weise durch sie zum Aus-
druck gebracht. Wo sie sich lagern, bilden sie
einen Schrecken der Landbevölkerung, die weiter
durch ihre Unreinlichkeit belästigt und durch die
von ihnen ausgehende Verschleppung von Krank-
beiten und Tierseuchen gefährdet wird. Ihr Wan-
ertrieb ist nicht aus zurotten und die wiederholten
Versuche, sie an eine seßhafte Lebensweise zu
gewöhnen, wie sie schon von Friedrich dem Großen
gemacht worden sind, haben zu keinem Ergebnisse
geführt, und zwar mit wenigen Ausnahmen auch
dann nicht, wenn die Z. Kinder im jugendlichsten
Alter in Fürsorge genommen worden sind.
Da sie vielfach zur Verdeckung ihrer Landstreiche-
rei als Kesselflicker, Musiker, Gaukler und in ähn-
licher Eigenschaft im Lande umherziehen, so bedür-
fen sie als Gewerbetreibende im Umherziehen eines
Wandergewerbescheins (J|; doch besteht die Vor-
schrift, daß ausländischen Z. und solchen, die sich
über ihre Reichsangehörigkeit nicht ausweisen
können, der Wandergewerbeschein grundsätzlich zu
versagen ist. Auch inländischen Z. kann er regel-
mäßig versagt werden, da sie nur in den seltensten
Fällen über einen festen Wohnsitz verfügen und
auch für den Unterhalt und Unterricht ihrer Kinder
kaum genügend gesorgt ist. Indessen bilden diese
Vorkehrungen nur einen geringen Schutz, da die
Z. bei den geheimnisvollen Beziehungen, die
zwischen den einzelnen Banden bestehen, es
meisterhaft verstehen, sich in den Besitz falscher
Ausweispapiere zu setzen. Dies gelingt ihnen oft
um so leichter, als vielfach namentlich die Orts-
polizeibehörden kleiner Gemeinden leicht geneigt
sind, den Bitten von Z. um Ausstellung von Aus-
weispapieren und insbesondere von Zwischenlegi-
timationen, wonach die Inhaber ihre Papiere zur
Erneuerung an die zuständige Behörde geschickt
oder sie verloren haben, zu entsprechen, weil sie
die Bande auf diese Weise am leichtesten loszuwer-
den hoffen oder im Falle der Verweigerung ihre
Rache fürchten.
Dieses Bestreben, sich der Z., die bei ihnen auf-
tauchen, mit möglichster Schnelligkeit und auf
einfachstem Wege zu entledigen, bestimmt übri-
gens nicht bloß die Entschließung der Dorf= und
Landbürgermeister, sondern vielfach auch die
höheren Behörden und zwar nicht nur desselben
Staates, sondern auch der verschiedenen Staaten
im Verhältnisse zueinander. Die vielen Umständ-
lichkeiten, welche mit der Abschiebung der 3.
und ihrer Uebernahme in ihre Heimat verknüpft
sind, haben wiederholt die Behörden veranlaßt,
sie heimlich in den Nachbarkreis oder in das Nach-
barland hinüberzuschaffen und sich so schnellstens
der unwillkommenen Gäste zu entledigen. Hier-
durch werden aber die Abwehrmaßnahmen gegen
das Z. Unwesen in hohem Maße beeinträchtigt
und gefährdet. Es gelingt keine hinreichende Fest-
stellung der Persönlichkeit und damit ist auch
eine wirksame Strafverfolgung vieler Z., die
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