Mädchenschulwesen (höheres)
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gens schon nach den Bestimmungen von 1894
möglich. Während aber früher die Zahl der für
Direktorate geeigneten Frauen sehr gering war,
wächst diese Zahl von Jahr zu Jahr. Verschiedene
Städte haben denn auch an ihren höheren MSch
schon Direktorinnen angestellt; auch der Staat hat,
wenn auch noch nicht an einer der fünf staatlichen
höheren MSch, so doch an einigen Volksschul-
lehrerinnenseminarien Direktorinnen ernannt, mit
gutem Erfolge. Der Hauptwiderstand gegen eine
weitere Verbreitung dieser Gepflogenheit geht
von den Oberlehrern aus, da es einem Manne
nicht zugemutet werden könne, eine Frau als Vor-
gesetzte zu haben. Für die richtige Beurteilung
darf man nicht vergessen, daß vor einigen Menschen-
altern in Deutschland die Mädchenerziehung tat-
sächlich als eine natürliche Angelegenheit der
Frauen angesehen wurde. Diese Ansicht wurde
nur dadurch (etwa in den sechziger Jahren des
19. Jahrhunderts) zurückgedrängt, daß, als der
Mädchenunterricht erhöhte wissenschaft-
liche Ansprüche stellte, es an Lehrerinnen fehlte,
die diesen Ansprüchen genügen konnten und daß
man darum zu männlichen Lehrkräften griff. Mit
der allmählichen Beseitigung dieses Mangels
steht zu erwarten, daß der natürliche Grundsatz,
Unterricht und Erziehung der weiblichen Jugend
sei in der Hauptsache Aufgabe der Frau, sich
wieder Bahn brechen wird. Damit wird auch die
Berufung der Frau in leitende Stellungen etwas
Selbstverständliches werden.
# 4. Die verwaltungsrechtliche Stellung der
höheren MSch war in Preußen früher nicht
grundsätzlich geregelt. Es gab Anstalten, die dem
Provinzialschulkollegium, andere, die den Re-
gierungen, und noch andere, meist allerdings ganz
kleine, die den Kreisschulinspektionen unterstanden.
Nunmehr sind sämtliche vollentwickelten, d. h.
zehnklassigen, höheren MSch und die an sie an-
schließenden Anstalten (Oberlyzeen und Studien-
anstalten) dem Ausfsichtskreise der Provin-
zialschulkollegien zugewiesen und damit
auch in verwaltungsrechtlicher Hinsicht den höheren.
Knabenschulen gleichgestellt worden. Für die
unter städtischem Patronat stehenden Anstalten,
die in. übrigen binsichtlich der technischen Beauf-
sichtigung gerade so behandelt werden wie die
staatlichen, ist von der Regierung die Bildung so-
genannter „Kuratorien“ empfohlen worden, in
denen auch Frauen Sitz haben können.
#5. Innerer Betrieb (Lehrpläne). Nach dem
Gesamtzweck dieses Wörterbuches kann nur auf
einiges Prinzipielle hingewiesen werden. Es liegt
in der Natur der Sache, daß der weitaus größte
Teil der neuen Bestimmungen, sofern sie sich mit
dem Lehrplan befassen, nur eine Kodifi-
kation dessen ist, was an vorgeschrittenen Anstalten
längst üblich war, z. B. das Prinzip, daß
durch Einführung der Mathematik und Verstärkung
der Naturwissenschaften dem ästhetisch-literarischen
Gepräge des Mädchenunterrichtes entgegenge-
wirkt werden solle. Ob dieser Gesichtspunkt so
allgemein richtig ist, ob es insbesondere zu recht-
fertigen ist, daß im Lehrerinnenseminar gerade
am Unterricht im Deutschen gegen früher
erhebliche Abstriche gemacht worden sind, ist hier
nicht zu erörtern. Im allgemeinen ist bei der Auf-
stellung der Lehrpläne die heutige methodische
Einsicht zu ihrem Rechte gekommen; insbesondere
ist der deutsche Lehrplan für alle, der grie-
chische für die humanistischen Studienanstalten
sehr gut gelungen. Gegen den Geschichts-
plan und den für Mathematik und Rech-
nen an der eigentlichen höheren MSch werden
in Fachkreisen viele Einwendungen erhoben. Am
wenigsten gelungen ist der Lehrplan für Päda-
gogik an den Oberlyzeen.
In einzelnen Punkten bieten die neuen Be-
immungen wertvolles Neues. So ist
insbesondere der Lehrplan für die Frauenschule
im einzelnen eine recht anerkennenswerte Leistung,
wenngleich die Frauenschule selbst in organi-
satorischer Hinsicht große Mängel, insbe-
sondere den einer Zersplitterung und gar zu viel-
seitigen Orientierung, sowie den einer schädlichen
Verquickung mit anderen, heterogenen, Tendenzen
hat. Aber zumal die Einführung der Bürger-
kunde und der Volkswirtschafts-
lehre, die nun auch in den Studienanstalten
Platz gewinnen wird, ist ein zweifelloses Ver-
dienst. Es ist der erste Schritt, den das preußische
Unterrichts Min in der Richtung auf die sog.
staatsbürgerliche Erziehung tut.
56. Koednkation. Ein im preußischen höheren
Schulwesen bisher ganz Neues bringen die Be-
stimmungen v. 18. 8. 08 (5 36). „Wo die Ver-
hältnissc es wünschenswert erscheinen lassen, ist es
ausnahmsweise statthaft, in die Klassen der Unter-
und Mittelstufe einer höheren MSch mit Ge-
nehmigung der Aufsichtsbehörde auch Knaben
aufzunehmen, die dann mit dem etwa er-
forderlichen Nebenunterricht sich für die Aufnahme
in die Tertia einer höheren Knabenschule vorbe-
reiten können.“ So ist die sog. Koedukation
zwar nicht allgemein, aber doch unter gewissen
Voraussetzungen zugelassen; jedoch ist die Form
eine gänzlich andere, als in den übrigen Bundes-
staaten, in denen sie nur in der umgekehrten Weise,
d. h. als Zulassung von Mädchen in Knabenschulen
besteht (z. B. in Sachsen, Württemberg, Baden,
Elsaß-Lothringen). Diese üblichere Form ist in
Preußen bisher nich t zugelassen worden. Gleich-
wohl wird für sie eine umfangreiche Propaganda
gemacht, die sich auf folgende Erwägungen stützt:
es ist für mittlere und kleine, bei dem heutigen
Steuerdruck auch für manche größere Städte nicht
möglich, Studienanstalten zu errichten (eine Stu-
dienanstalt wird meist auf etwa 40 000 Mk.
Jahreskosten geschätzt), daher sind die Eltern in
solchen Städten gezwungen entweder ihre Töchter
in frühem Lebensalter (13. Jahrl) schon aus dem
Hause zu geben und in den eine Studienanstalt er-
haltenden Städten unterzubringen oder auf eine
Ausbildung ihrer Töchter überhaupt zu verzichten.
Diesem großen Uebelstand ist nur zu begegnen
durch die Zulassung der Mädchen zu den auch in
kleineren Städten meist wenigstens in einer
Form vorhandenen höheren Knabenschulen. Von
diesen Erwägungen aus haben — bis auf Preußen,
Bayern, Mecklenburg und Hamburg — sämtliche
Bundesstaaten die Zulassung gestattet.
II. Andere deutsche Staaten 87.
Im unschluß an die preußische Reform (§s#J2—6)
sind in einigen anderen Staaten ebenfalls erhebliche
Veränderungen des höheren M. vollzogen worden.
Bayern erließ seine Neuordnung am 8. 4. 11,