Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Erster Teil. Bis zum zweiten Pariser Frieden. (24)

380 I. 3. Preußens Erhebung. 
sein Heilmittel war ärger als die alten Uebel. Sein Kreisdirector mit- 
sammt der Kreisversammlung war nichts anderes als der Unterpräfect 
und der Arrondissementsrath des napoleonischen Frankreichs. Mit diesem 
Edicte, das unter so anspruchslosem Namen auftrat, that der Staats- 
kanzler den verhängnißvollen ersten Schritt zur Einführung des Präfec- 
tursystems. Die Oberpräsidenten hatte er schon abgeschafft, und nun 
versprach er bereits das Staatsgebiet in „neue Regierungs= und Militär- 
departements“ einzutheilen. Er war jetzt so ganz durchdrungen von der 
Herrlichkeit der schlagfertigen Präfectur, daß selbst sein ergebener F. von 
Raumer sich bewogen fand ihm die Vorzüge des alten preußischen Col- 
legialsystems in einem beweglichen Briefe vorzuhalten. 
Zum Glück fehlte dem geistreichen Manne die Willenskraft zur 
Durchführung der undeutschen, verderblichen Neuerung, die er plante. 
Vorderhand sollte nur ein Theil der Bestimmungen des Gensdarmerie- 
Edicts „provisorisch" in Kraft treten. Dieser Unfug der provisorischen 
Gesetzgebung war dem gestrengen alten Absolutismus ganz unbekannt 
gewesen und riß erst jetzt ein, da der leitende Staatsmann zwischen Pro- 
jecten und Experimenten unstät hin und her griff. Provisorisch also 
sollten die bisherigen Landräthe die Geschäfte der neuen Kreisdirectorien 
übernehmen, nur daß man zuvor gründlich unter ihnen aufräumte und 
eine große Zahl der Altständischgesinnten entließ. Jedoch selbst in dieser 
provisorischen Gestalt stieß die neue Ordnung auf einen ungeheueren, 
völlig unbesiegbaren Widerstand. Der Landadel, in seinem Allerheiligsten 
bedroht, lärmte lauter denn je, die Nationalrepräsentanten in Berlin 
verwahrten sich gegen die Verletzung der alten Gerechtsame. Mehrere 
der wärmsten persönlichen Anhänger des Staatskanzlers stimmten mit 
ein in die berechtigten Vorwürfe, welche von Stein, Vincke und den an- 
deren Vertretern des Gedankens der Selbstverwaltung erhoben wurden; 
der geistreiche Hippel gerieth mit seinem alten Freunde Scharnweber ganz 
aus einander. Das Edict konnte nur in wenigen Regierungsbezirken, 
nirgends vollständig und in der Kurmark gar nicht, ausgeführt werden; 
bald nachher schwemmte die Sturmfluth des Krieges von 1813 auch diese 
schwachen Anfänge großentheils wieder hinweg, und im Jahre 1814 wurde 
die weitere Ausführung eingestellt. Die einzige gesunde Frucht des un- 
glücklichen Gesetzes waren die Kreisversammlungen. Erst in der stillen 
Arbeit dieser Versammlungen lernte das Landvolk die neue Zeit kennen 
und lieben. Wo immer sie in's Leben traten da war Jedermann des 
Lobes voll für das Verhalten der Bauern; sie lieferten den Beweis, daß 
Stein's Werk, die Befreiung des Bauernstandes nicht zu früh erschienen 
war. Alle Berichte der Behörden erzählten mit naivem Erstaunen, wie 
willig, brauchbar, besonnen dieser neue Stand sich zeige.) 
*) Viele Belege hierfür giebt der Bericht des Ministers Beyme vom 21. April 1818 
über seine Rundreise durch Pommern und Preußen. 
 
	        
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