§ 22. Fortsetzung. Die Verwaltung der Staatsschuld. 87
§ 22. Fortsetzung. IV. Die Verwaltung der Staatsschuld ¹). Abweichend von
dem Prinzip des konstitutionellen Staatsrechts, nach welchem die Ausübung der Staats-
gewalt der Regierung, den Ständen aber nur eine mitwirkende bezw. kontrolirende Thätig-
keit zusteht, gilt in Württemberg — anknüpfend an die altwürttemberg. Verfassung, in
welcher die von den Ständen selbst verwaltete Landessteuerkasse ihrer Hauptbestimmung
nach Staatsschuldenzahlungskasse war, s. o. S. 77 ²) — für die Staatsschuld der um-
gekehrte Grundsatz, daß dieselbe durch die Stände, jedoch unter der Aufssicht der Regierung
verwaltet wird.
Die Verfassung (§§ 119 —123) stellt nämlich die Staatsschuld unter die Gewähr-
leistung der Stände und bestimmt, daß die Staatsschuldenzahlungskasse nach den Normen eines
zu verabschiedenden Statuts (s. u.) von ständischen — im Zusammentritt beider Kammern
gewählten — und durch den König bestätigten Beamten unter Leitung und Verantwort-
lichkeit der Stände verwaltet werden soll. Dem ständischen Ausschusse werden monatliche
Kassenberichte, doppelt ausgefertigt, erstattet, und derselbe hat jedesmal ein Exemplar dem
Finanzministerium mitzutheilen. Der Regierung steht frei, von dem Zustande der Kasse
und den Büchern jederzeit Einsicht nehmen zu lassen. Die Jahresrechnung wird von
einer Königl. und ständischen Kommission abgehört, das Resultat öffentlich durch den
Druck bekannt gemacht. Um aber der Ständeversammlung die Erfüllung ihrer Pflichten
bezüglich der Zinszahlung und der Schuldentilgung zu ermöglichen, muß bei jeder Ver-
abschiedung eines Hauptetats festgesetzt werden, welcher Theil der Staatseinnahmen direkt
an die Staatsschuldenzahlungskasse abzuliefern ist. Die Steuereinnehmer (nämlich die
Oberamtspfleger, s. § 77, und die Obereinbringer der indirekten Steuern) sind dafür
verantwortlich, daß sie die Steuergelder unter keinem Vorwande an eine andere als an
die durch die Verabschiedung bestimmte Kasse oder auf eine von dieser ausgestellte An-
dieses Instituts, sofern es überhaupt staatsrechtlich begründet ist, besteht darin, daß die oben an-
geführten Einnahmeüberschüsse der Vorjahre und die andern im Etat nicht in Rechnung genommenen
Einnahmen nicht, wie es im Reich und in Preußen und andern deutschen Staaten der Fall ist,
sofort von Rechts wegen (also ohne einen besonderen Akt der Gesetzgebung) der Staatskasse anheim-
fallen und zur Deckung der allgemeinen Staatsbedürfnisse der folgenden Jahre dienen, sondern zu
einem besonders verwalteten, bisweilen viele Millionen umfassenden Fonds vereinigt werden, und es
dann erst eines neuen, die Zustimmung der Regierung und der Ständekammer erfordernden Gesetz-
gebungsakts zur Verwendung dieser Gelder bedarf, wenn aber ein solcher nicht zu Stande kommt, diese
Gelder unverwendet bleiben, s. auch Mohl, St. R. II S. 878; Riecke, Komm. Ber. der I. Kammer v.
21. März 1891 S. 8 ff.; Widenmeyer a. a. O. Suppl. S. 1 ff. (Wenn hingegen jetzt von Schall
im Finanzarch. B. X 2. S. 9 behauptet wird, es gelte in dieser Beziehung in Württ. ganz dasselbe
wie in andern Staaten, so erklärt sich dies nur durch einen offenbaren Mangel an juristischer Auf-
fassung.) Uebrigens dürfte das ganze Institut der Restverwaltung in diesem Sinne mit der V. U.
§ 110 nicht vereinbar sein; denn wenn es auch in Württ. an einer dem § 70 der R.V. entsprechen-
den ausdrücklichen Vorschrift fehlt, so ergibt sich doch aus jenem § 110, daß nur soweit die früher
verwilligten Staatseinnahmen erweislichermaßen verwendet sind, den Ständen eine neue Steuer-
verwilligung angesonnen werden darf, denn soweit die Steuerreste noch in der Restverwaltung vorhanden
find, ist dieser Nachweis nicht geführt und ist zu besondern Gesetzen über die Verwendung dieser
Gelder zu speziellen Zwecken kein Raum; s. auch Riecke, Verf. S. 399 u. in dem angef. Komm. Ber.
S. 10. Von welch' verderblichen Folgen dieses Institut begleitet ist, theils wegen der nicht selten un-
verantwortlichen Verwendung der Staatsgelder (heute Schwelgen in Ueberschüssen, Luxusbauten,
Gehaltserhöhungen, welche wegen ganz vorübergehender Mehreinnahmen den Etat für alle Zukunft
über die Kräfte des Landes hinaus belasten, — morgen Steuererhöhung), theils wegen der unver-
meidlichen Korruption der Ständekammer, welche der Wettlauf bei der Vertheilung der Restgelder
unter die verschiedenen Bezirke mit sich bringt — alles dies ist schon so oft und so nachdrücklich
geltend gemacht worden, daß es einer Zurückweisung des neuesten Versuchs, die Einrichtung zu
rechtfertigen, kaum bedarf.
1) S. auch unten § 64, II.
2) Und Fricker, V. U. S. 67, 171, 192 ff.