110 Vierter Abschnitt: Die Organisation des Staates. II. Die Ständeversammlung. § 33.
Gesetzesvorschläge aus der Mitte der Stände müssen in der Kammer der Abgeordneten
von mindestens 15, in der Kammer der Standesherren von mindestens 5 Mitgliedern unter-
zeichnet sein. (V.G. vom 23. Juni 1874 Art. 6.)
Zur Fassung eines Beschlusses wird in jeder Kammer die zur voll-
ständigen Besetzung derselben (s. o. Nr. 2) nothwendige Anzahl von Mitgliedern erfordert
(V. U. § 175). Die Beschlüsse werden nach der Stimmenmehrheit, welche nach Beschaffen-
heit des Gegenstandes eine absolute oder relative sein kann, abgefaßt. Im Falle der
Stimmengleichheit gibt der Präsident, der sonst keine Stimme hat, den Ausschlag. Wenn
jedoch von Abänderung „irgend eines Punktes der Verfassung die Rede ist“, so
ist die Beistimmung von zwei Dritttheilen der anwesenden Mitglieder in beiden Kammern
nothwendig. (V. U. § 176.) ¹). Unter Punkten der Verfassung sind hierbei nach der richtigen
Ansicht nur Bestimmungen zu verstehen, welche formell in der V. U. enthalten oder
welchen, obgleich sie in einem einfachen Gesetz enthalten sind, ausdrücklich die formelle Kraft
einer Verfassungsnorm beigelegt worden ist; auf Normen anderer Art, auch wenn die-
selben ihrer Natur nach, namentlich mit Rücksicht auf die Folgen für den öffentlichen
Rechtszustand noch so wichtig sein sollten, findet dagegen die Vorschrift keine Anwendung ²).
Im Uebrigen ist, soweit es sich um eine Textesänderung handelt, zu unterscheiden. Soll
die an die Stelle der mit einer Mehrheit von zwei Dritteln aufgehobenen Norm tretende
Bestimmung selbst wieder eine Verfassungsnorm werden, so bedarf es zur Beschlußfassung
über diese neue Vorschrift wiederum einer Mehrheit von zwei Dritteln, während im ent-
gegengesetzten Falle die einfache Stimmenmehrheit genügt, und dann auch die neue Norm
selbst wieder der Abänderung durch letztere unterliegt. Bei einem Entwurfe, welcher seinem
ganzen Inhalte nach Verfassungsgesetz werden soll, ist der Vorschrift des § 176 genügt,
wenn auch nur bei der Schlußabstimmung die Zweidrittelsmehrheit ausdrücklich konstatirt
wird, sollte auch bei einzelnen Artikeln eine solche nicht vorgelegen haben oder nicht fest-
gestellt worden sein ³). Sollen dagegen nur einzelne Bestimmungen eines Entwurfs Ver-
fassungsnorm werden oder an die Stelle einer solchen treten, so bedarf es für diese einer
speziellen Feststellung der erforderlichen Mehrheit. Besteht Meinungsverschiedenheit über
die Vorfrage, ob es sich um eine Verfassungsänderung handle, so entscheidet hierüber
nach der bestehenden Uebung die einfache Stimmenmehrheit ⁴).
Ueber Eingaben Dritter beschließt die Kammer der Abgeordneten auf Grund
der von der Petitionskommission, unter Umständen auch von einer anderen Kommission
erstatteten mündlichen oder schriftlichen Berichte. Den Bittstellern wird, wenn die Ein-
gaben persönliche Angelegenheiten enthalten, durch Protokollauszug Nachricht von dem
Beschlusse gegeben, andernfalls genügt die Aufnahme des Beschlusses in das Protokoll.
(G.O. von 1875 §§ 44, 45).
6. Verkehr der Kammern unter sich und mit der Regierung.
Die von einer Kammer gefaßten Beschlüsse werden der anderen Kammer zur Berathung
1) Ueber Abänderung der Gesch. Ordn. und Abweichungen von derselben s. o. S. 141.
2) Vgl. §§ 176 u. 195 der V. U.; so wurde die Frage auch von beiden Kammern bei der
Beschlußfassung über den Bündnißvertrag v. 13. Aug. 1866 beantwortet. S.Prot. der K. d. A.
1866/68 S. 465; der K. d. St. H. S. 91. A. A. Mohl, I S. 621. Dagegen liegt eine Ver-
fassungsänderung auch dann vor, wenn zwar formell der Wortlaut der V U. bestehen bleibt,
materiell aber — für den Wirkungskreis des Gesetzes — die Verfassung geändert wird; vgl. auch
Dyroff in Hirth's A. 1889 S. 909 und Laband in diesem Hdb. II I, S. 88 der 2. Aufl.
3) Vgl. auch die Vorgänge in der K. d. A.: Prot. v. 1870/74. S. 5101 u. Prot. v.
1875/76 S. 1814 (2. Juni 1876); theilweise A. M. Mohl, I S. 621, Bitzer ꝛc. S. 199f.
4) Es ist klar, wie leicht auf diese Weise die ganze Verfassungsvorschrift umgangen werden
kann; so wurde bei der Abstimmung über den Bündnißvertrag mit Preußen vom 13. Aug. 1866
mit einfacher Stimmenmehrheit beschlossen, daß keine Verfassungsänderung in Frage stehe.