§ 36. Der Staatsgerichtshof. 119
weiteren Ausschusses in Angriff genommen worden sein, im vollen Ausschusse verhandelt
und erledigt, wie umgekehrt die im vollen Ausschusse begonnenen Geschäfte nach der Ent-
lassung der Abwesenden vom engeren Ausschusse innerhalb seiner Zuständigkeit zur Erledi-
gung gebracht werden.
Ueber die zur Beschlußfassung im engeren wie im vollen Ausschusse erforderliche
Stimmenzahl fehlt es an einer gesetzlichen Bestimmung. Es wird zwar an der Vollzählig-
keit als Regel festgehalten, doch wird bei blos vorübergehender Verhinderung einzelner
Mitglieder, sofern nur wenigstens zwei Dritttheile der verfassungsmäßigen Mitgliederzahl
des engeren bezw. des größeren Ausschusses zugegen sind, von der Einberufung der Stell-
vertreter abgesehen ¹).
Die anwesenden Mitglieder beziehen einen fixen jährlichen Gehalt von 1800 Gulden
(3085 M. 71 Pf.), an dessen Stelle während der Dauer des Landtages die Diäten
der Ständemitglieder treten, die Abwesenden erhalten während ihrer Einberufung die Diäten
und Reisegelder der Ständemitglieder.
G. Der Staatsgerichtshof.
Litteratur. Mohl, Die Verantwortlichkeit der Minister. 1837, Scheurlen, Der
Staatsgerichtshof im Königreiche Württemberg. 1835, Hufnagel in Schunk's Jahrb., XVIII.
S. 255 f., Mohl, Staatsrecht, 1 S. 761 ff., Thudichum in Hirth's Annalen 1885, Th. Pisto-
rius, Die Staatsgerichtshöfe und die Ministerverantwortlichkeit, Tübingen 1891; Brie im
Wörterbuch des Verw. R., II S. 492 ff.; weitere Litteratur hier und bei v. Holtzendorff, Encycelop.
4. Aufl. S. 1059. Der Streit über die Natur der Staatsgerichtshöfe gehört in das allg.
Staatsrecht.
§ 35. „Zum gerichtlichen Schutze der Verfassung“ sowohl gegenüber der Regie-
rung, als gegenüber den Ständen hat die württemberg. V.U. in ihrem X. Kapitel eine
ständige Behörde, den Staatsgerichtshof, eingesetzt. Die Aufgabe dieses Gerichtshofes be-
steht nicht darin, Verfassungsstreitigkeiten zu entscheiden ²), derselbe war vielmehr ursprüng-
lich (vgl. V. U. § 203) eine Strafbehörde und sollte nach der Intention der V. U.
in Beziehung auf die nachher anzuführenden Handlungen und Personen die Funktionen
des ordentlichen Strafgerichts und eines politischen Gerichtshofes zum Schutz gegen Ver-
letzung des Verfassungsrechts — beides wurde nicht genügend ausgeschieden — in sich
vereinigen ³). Nach § 195 der V. U. erkennt nämlich der Staatsgerichtshof über Unter-
nehmungen, welche auf den Umsturz der Verfassung gerichtet sind und über Verletzung
einzelner Punkte der Verfassung, also auch über Handlungen, welche, wie Hoch- und
Landesverrath, dem allgemeinen Strafgesetze unterliegen, wogegen solche Handlungen, welche
keine formelle Rechtsverletzung, wenn auch eine noch so schwere Gefährdung der Sicherheit
und Wohlfahrt des Staates oder nur eine Verletzung einfacher Gesetze enthalten, von der
Zuständigkeit dieses Gerichtshofes ausgeschlossen wurden⁴). Die Thätigkeit der ordent-
lichen Gerichte in Beziehung auf die unter das allgemeine Strafgesetz fallenden Hand-
lungen wurde hierbei in § 203 Abs. 2 der V. U. insofern beschränkt, als dieselbe nur
1) Vgll. auch Bitzer a. a. O. S. 227f.
2) Die Anwendung des Art. 76 Abs. 2 der R.V. ist daher für Württemberg, mag man nun
den Begriff der Verfassungsstreitigkeit enger oder weiter fassen (vgl. Laband, R. St. R. I S. 250 ff.
278, Zorn, I S. 159), durch die Einsetzung dieses Gerichtshofes nicht beschränkt. Vgl. auch
v. Martitz, Betrachtungen, S. 18, 29 ff., Hänel, Studien, II S. 272.
3) Man nahm an, daß gewisse Kategorien von Personen wegen der in ihren Händen ver-
einigten Macht ꝛc. für den ordentlichen Richter und dessen Strafgewalt nicht erreichbar seien; Verh.
v. 1819 H. 43 S. 68. S. im Uebrigen bezüglich der rechtlichen Natur des Instituts Pistorius
a. a. O. S. 163, 182 f., 187.
4) Ein Gesetzentwurf betr. die Abänderung des X. Kapitels der V. U. wurde am 26. Januar
1876 bei der K. d. A. eingebracht, in der Folge aber von der K. d. St. H. abgelehnt.