124 Vierter Abschnitt: Die Organisation des Staates. II. Die Ständeversammlung. § 35.
Dem Verfahren liegt hiernach die reine Anklageform — aber mit Festhaltung des
Untersuchungsprinzips — zu Grunde. Die Zusammensetzung des Gerichtshofes aus rechts-
gelehrten und nichtrechtsgelehrten Mitgliedern ergibt die freie Beweiswürdigung, jedoch
mit der Beschränkung, daß die Richter ihre Abstimmung — auch in thatsächlicher Be-
ziehung — schriftlich zu begründen haben, um die Veröffentlichung derselben zu er-
möglichen ¹).
Bei den Urtheilen und Beschlüssen entscheidet einfache Stimmenmehrheit; bei
Stimmengleichheit gibt die für den Angeklagten günstigere Meinung den Ausschlag. Der
Präsident führt, wie schon bemerkt, keine Stimme.
Das Urtheil wird öffentlich verkündet ²).
Gegen die Entscheidung sind nur die nicht devolutiven Rechtsbehelfe der Revision
und der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zugelassen, worunter nur die unter diesem
Namen bekannten Rechtsmittel des gemeinen Prozesses verstanden werden können, da für
eine Anknüpfung an das im Jahre 1819 in Württemberg geltende Strafprozeßrecht,
welches die Revision gar nicht kannte, jede Berechtigung fehlt, wie dies auch aus der
Annahme des dem damaligen württemb. Strafprozeß gänzlich fremden Anklageverfahrens
sich ergibt ³). Die Fristen für die angeführten Rechtsbehelfe müssen in Ermangelung einer
gesetzlichen Bestimmung durch den Gerichtshof normirt werden, welcher hierbei auch über
den Suspensiveffekt Beschluß faßt ⁴); denn an sich sind die Urtheile dieses Gerichtshofes in
Ermangelung einer entgegenstehenden Vorschrift mit der Verkündung vollstreckbar.
Für die Vollziehung der Beschlüsse, also auch des Endurtheils, hat der Präsident
zu sorgen; in Anstandsfällen hat er zu diesem Behufe den Gerichtshof nach dessen Auf-
lösung (s. o.) wieder zu versammeln ⁵). Besondere Bestimmungen über die Anwendung
von Zwangsmitteln zum Zwecke der Vollstreckung fehlen. Daß der Präsident bezw. der
Gerichtshof zu diesem Zwecke mit den Ständen oder der Staatsregierung (dem Staats-
ministerium) in Verkehr treten kann, ist nicht zu bezweifeln, auch würde im Falle der
Verweigerung der staatlichen Beihilfe jetzt der Art. 77 der R.V. Anwendung finden; regel-
mäßig wohl auch der Art. 76 Abs. 2, indem eine solche Weigerung seitens der Staats-
regierung oder der Stände den Thatbestand eines Verfassungsstreites bilden würde.
V. Das Begnadigungsrecht des Königs ⁶) ist gegenüber den Urtheilen des Staats-
Gerichtshofes dahin beschränkt, daß der König einen zur Entfernung vom Amte verur-
theilten Staatsbeamten nicht in seiner bisherigen Stelle belassen, auch nicht in einem anderen
Justiz- oder Verwaltungsamte anstellen kann, es wäre denn, daß das Urtheil in Be-
ziehung auf die Wiederanstellung einen ausdrücklichen Vorbehalt zu Gunsten des Ver-
urtheilten enthalten würde. Alle anderen Strafen können dagegen vom König im Wege
der Gnade erlassen werden; auch ist derselbe an der Uebertragung eines Hof-, Kirchen- oder
Schulamtes oder an der Verwilligung eines Gnadengehaltes an einen früheren Staats-
beamten und an der Verwendung eines ständischen Beamten oder eines von der Landstand-
schaft ausgeschlossenen Abgeordneten im Staatsdienste nicht gehindert ⁷).
1) S. die Verh. v. 1850 a. a. O.
2) Dies ist eine Folge der ausdrücklich vorgeschriebenen Oeffentlichkeit der Verhandlung;
s. auch die Verh. v. 1850 S. 55.
3) Vgl. auch Mohl, I S. 814 ff., a. M. Sarwoy, I S. 255.
4) Vgl. auch Verh. v. 1850 S. 186 f.
5) B. U. § 198.
6) Ueber den Ausschluß des Abolitionsrechts s. S. 123.
7) V. U. § 205. Mohl, I S. 816; ständ. Verh. v. 1819. H. 44 S. 151.