Full text: Handbuch des Öffentlichen Rechts. Band III.1.2. Das Staatsrecht des Königreichs Württemberg. (2)

176 Fünfter Abschnitt: Die Funktionen des Staates. I. Die Gesetzgebung. § 55. 
ordnungsgewalt unterliegenden Gegenstände im Verordnungswege beschränkt oder aufgehoben 
werden. Außerdem können bezirks- oder ortspolizeiliche Vorschriften wegen Ungesetzlichkeit ihrer 
Erlassung oder wegen Widerspruches mit der Anordnung einer höheren Behörde oder wegen 
Nachtheils für das öffentliche Wohl oder Verletzung der Rechte Dritter jederzeit durch die zunächst 
vorgesetzte und die höhere Verwaltungsbehörde außer Wirksamkeit gesetzt werden. Die hierher 
bezüglichen landesherrlichen Verordnungen und die Min.-Verfügungen werden im Reg.-Blatt ver- 
öffentlicht ¹), wogegen die Bekanntmachung der bezirks- und ortspolizeilichen Vorschriften durch 
die Verf. des Ministeriums des Innern vom 9. Jan. 1872 geregelt ist ²). 
In Beziehung auf die Ausführungsverordnungen zu den Reichsgesetzen 
ist zu unterscheiden. Soweit die Autonomie der Landesgesetzgebung reicht, gelten für 
die Abgrenzung zwischen Gesetz und Verordnung die vorstehenden Grundsätze; soweit da- 
gegen Ausführungsbestimmungen in Folge einer Delegation der Reichsgesetzgebung zu 
erlassen sind, entscheidet bezüglich des hierzu berufenen Organs ausschließlich der Inhalt 
des Mandats ³). 
2. Die Nothverordnung. Die V. U. enthält — als Ausnahme von dem in § 88 
ausgesprochenen Grundsatze, daß ohne Zustimmung der Stände kein Gesetz gegeben, auf- 
gehoben oder abgeändert werden kann — in § 89 und zwar im unmittelbaren Anschlusse 
an das Recht des Königs, Ausführungsverordnungen zu erlassen, den ganz allgemeinen 
Satz, daß der König auch berechtigt sei, „in dringenden Fällen zur Sicherheit 
des Staates das Nöthige vor zukehren". Die Schranken, welche andere Staats- 
verfassungen, z. B. die preuß. V. U. §§ 63, 106, diesem Rechte dahin gezogen haben, 
daß durch eine Nothverordnung die Verfassung nicht abgeändert, und daß eine solche 
Verordnung nur erlassen werden darf, wenn die Kammern nicht versammelt sind, und 
daß sie nur gilt, bis dieselben zusammentreten — fehlen in Württemberg gänzlich. Aus jenen 
Worten der V. U. ergeben sich vielmehr folgende Sätze: 
a) Der König kann durch eine einfache Verordnung, welche selbstverständlich 
(V. U. § 51) von einem Minister kontrasignirt sein muß, jede Aenderung des bestehenden 
Rechtszustandes giltig anordnen, also auch eine Verfassungsbestimmung abändern oder 
außer Wirkung setzen ⁴). 
b) Die einzige Voraussetzung dieser sog. Nothverordnung ist, daß nach dem pflicht- 
mäßigen Ermessen der Staatsregierung die Sicherheit des Staates die angeordnete Ver- 
fügung und die sofortige Erlassung derselben fordert. Eine Anführung der Gründe 
oder auch nur eine ausdrückliche Berufung auf die angebliche Nothlage ist nicht vor- 
geschrieben ⁵). Eine solche Maßregel kann auch verfügt werden, so lange die Stände ver- 
sammelt sind ⁶). 
c) Die Nothverordnung hat dieselbe Wirkung, wie ein mit den Ständen verab- 
schiedetes Gesetz bezw. wie ein Verfassungsgesetz; ihre Wirkung dauert daher fort, bis sie 
im Wege der Gesetzgebung — also durch Zusammenwirken sämmtlicher Faktoren — oder 
 
1) Vgl. über das Vorstehende das Pol. Str. G. v. 27. Dez. 1871 Art. 51—56. 
2) Bezirkspolizeiliche Vorschriften werden hiernach durch das Amtsblatt des Bezirkes ver- 
kündet, ortspolizeiliche durch Einrücken in ein in der Gemeinde erscheinendes Lokalblatt, durch An- 
schlag am Rathhaus oder durch Anschlag an den Stellen, für welche die Vorschriften bestimmt sind, 
oder durch öffentliches Ausrufen oder Vorlesen vor der versammelten Einwohnerschaft, oder durch 
mündliche oder schriftliche Mittheilung an die einzelnen Einwohner. 
3) Vgl. auch oben S. 169 N. 1 u. Laband, R. St. R. I S. 605, in diesem Hdb. II I S. 94 d. 
4) In Württemberg beruht dermalen das ganze Zweikammersystem auf der Nothverordnung 
vom 6. Nov. 1850. S. oben S. 11 und 78. 
 5) Der § 89 der V. U. statuirt keinen formellen Unterschied zwischen Ausführungs- und Noth- 
verordnung. 
6) Dies wurde auch bei der Berathung des § 89 in der Sitzung v. 16. Sept. 1819 anerkannt 
und nur verlangt, daß die Stände von der V.O. nachträglich in Kenntniß gesetzt werden; 
s. Fricker, V. U. S. 364 f.
	        
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