§ 69. Die Selbstverwaltung und ihre Organe. — Vorbemerkungen. 219
nicht mehr durch das Gemeindebürgerrecht bedingte Wahlrecht — sowohl für die Wahl des Ge-
meinderaths als des Bürgerausschusses — eingeführt wurde. An diese Gesetzgebung schlossen sich dann,
neben verschiedenen kleineren Gesetzen ¹), an: das Ges. v. 17. September 1853 betreffend die zu-
sammengesetzten Gemeinden, das Ges. v. 24. Januar 1855 betreffend die Handhabung der
Staatsaufsicht über verwahrloste Gemeinden, das Ges. v. 16. August 1875 über die Be-
wirthschaftung und Beaufsichtigung der Waldungen, endlich das Ges. v. 23. Juli 1877
über die Besteuerungsrechte der Gemeinden (mit Novelle v. 8. März 1881).
Seit dem Jahre 1870 hatte nun zwar in Folge der Reichsgesetzgebung, insbesondere der
Gew.O., der Gesetze über Erwerb und Verlust der Bundes- und Staatsangehörigkeit, über die Frei-
zügigkeit, die Aufhebung der polizeilichen Beschränkungen der Eheschließung und über den Unter-
stützungswohnsitz das Gemeindebürgerrecht und das damit verbundene sog. Heimathrecht seine Bedeu-
tung beinahe gänzlich verloren; dennoch hat auch das neueste Gesetz über die Gemeindeangehörigkeit
(vom 16. Juni 1885) den Uebergang von der alten Bürgergemeinde zur reinen Einwohnergemeinde
nicht vollzogen, sondern — hauptsächlich mit Rücksicht auf die in nahezu der Hälfte sämmtlicher
Landgemeinden bestehenden, bisher an den Besitz des sog. Aktivbürgerrechts geknüpften Gemeinde-
nutzungen, deren gänzliche Beseitigung oder aber Uebertragung auf sämmtliche Ortseinwohner gleich
unthunlich erschien — an dem Gemeindebürgerrecht festgehalten, ja demselben durch Aufhebung des
seit 1849 bestehenden Wahlrechtes sämmtlicher steuerzahlender Ortseinwohner und Beschränkung
desselben auf die Gemeindebürger neues Leben künstlich einzuflößen gesucht, wogegen andererseits
die dem Heimathrecht zu Grunde liegende Verpflichtung jedes Staatsbürgers, einer Gemeinde des
Landes anzugehören, beseitigt, im Uebrigen aber die Erwerbung des Gemeindebürgerrechts durch
die Ortseinwohner begünstigt wurde. Auch die neuesten Gesetze v. 21. Mai 1891 u. 25. Juni 1894
haben an dem, auf der rechtlichen Gleichstellung aller Gemeinden und auf der lebenslänglichen Funktion
der durch das direkte allgemeine Wahlrecht berufenen Ortsvorsteher beruhenden, eigenthümlichen und
neuerdings viel angefochtenen Charakter der württ. Gemeindeverfassung nichts geändert.
Die Amtskörperschaften (früher „Stadt und Amt“ genannt) als die Verbindung der
Städte mit den benachbarten Dörfern ꝛc. zu einer höheren korporativen Einheit sind ein in der alt-
württembergischen Verfassung begründetes Institut, dessen allmählige Ausbildung historisch theils
mit der Erwerbung der einzelnen, aus Städten und zugehörigen Dörfern bestehenden Herrschaften
seitens der Grafen von Württemberg, theils mit der Entwickelung der Landeshoheit selbst im engsten
Zusammenhange stand. Die ersten Anfänge der ständischen Verfassung knüpfen an diese Organisation
an, welche schon in der frühesten Zeit der Ausgleichung von Lasten, der gegenseitigen Versicherung
gegen Schäden, überhaupt der gemeinsamen Abwehr diente²). Die Vereinigung sämmtlicher Amts-
korporationen bildete das Land, und die Delegirten dieser Korporationen in Verbindung mit den
Prälaten als Vertretern der einzelnen Klöster bildeten zusammen die Landschaft, welche dem Herzoge
und seiner Regierung als selbstständiges Rechtssubjekt (Gesammtkorporation) gegenüber stand. Nach-
dem die alte ständische Verfassung beseitigt war, wurde der seit Jahrhunderten bestehende Amts-
korporationsverband als ein Theil der staatlichen Verwaltungsorganisation im Anfange dieses Jahr-
hunderts auf die neuerworbenen Landestheile übertragen. Die Verfassung von 1819 gab dem In-
stitute wenigstens einen Theil seiner früheren ständischen Bedeutung zurück, indem sie in den §§ 64—69
das Recht dieser Korporationen auf selbstständige Verwaltung ihrer Angelegenheiten im Allgemeinen
anerkannte, die Oberamtseintheilung zur Grundlage der ständischen Vertretung machte und in
Anknüpfung an die altwürttembergischen Einrichtungen den Amtskorporationen die Erhebung der
direkten Staatssteuern aus Grundeigenthum, Gebäuden und Gewerben überließ. Ist auch die
Bedeutung dieser Korporationen als Selbstverwaltungskörper in neuerer Zeit zurückgetreten und
das ganze Institut in vielen Beziehungen verkümmert, so bilden sie doch noch immer eine der weiteren
Entwickelung fähige Einrichtung und in ihrer bis in das Mittelalter zurückreichenden historischen
Kontinuität ein nicht uninteressantes Beispiel größerer, der Selbstverwaltung dienender Verbände ³).
Den Amtskörperschaften sind in neuester Zeit als weitere Selbstverwaltungskörper mit ganz
beschränkter Wirksamkeit die Landarmenverbände hinzugetreten.
1) Wie die Ges. v. 17. Juli 1824, 28. Aug. 1849 u. 5. Mai 1852 ꝛc.
2) Schon bei der Landestheilung von 1442 bildeten die „Aemter“ die Grundlage; in der
Amts- u. Landschadensordnung vom 28. Okt. 1489 u. der I. Landesordnung v. 1495 traten Stadt
u. Amt als eine bestehende Organisation auf.
3) Vgl. auch Fricker u. Geßler, Geschichte der württemberg. Verf. S. 37 ff., 48, 126,
130 f. Mohl. II S. 216. Bätzner im A. Bl. des Min. des Innern, 1878 S. 158 f., 339 f.,
356 ff. u. über die jüngste Fortbildung des Instituts durch die Verw. Nov. v. 1891 Art. 28—42.
Fleischhauer a. a. O. S. 109 ff.