222 Siebenter Abschnitt: Die Selbstverwaltung und ihre Organe. I. Die Gemeinden. § 71.
gabe des Gesetzes vom 24. Januar 1855 wegen ökonomischen und sittlichen Zerfalls durch
Königliche Verordnung als „verwahrlost“ unter besondere Staatsaufsicht
gestellt sind ¹). In diesen Gemeinden tritt nämlich an die Stelle des gewählten Orts-
vorstehers und, wenn die Regierung es für gut findet, auch des Rathschreibers ein vom
Könige ernannter Beamter, welcher nicht nur alle Rechte des Ortsvorstehers bezw. des
Rathschreibers, sondern auch statt des Gemeinderathes die Strafgewalt ausübt, auch die
gemeinderäthlichen Beschlüsse in Polizei- und Verwaltungssachen suspendiren und der
Entscheidung des Oberamtes unterstellen kann ꝛc.
b) Eine allgemeine Schranke des Selbstverwaltungsrechts besteht insofern, als
die Gemeinden — unabhängig von dem Aufsichtsrechte der Staatsbehörden ²) — bei einer
Reihe von Verfügungen über das Gemeindevermögen, insbesondere bei der Aufnahme von
Schulden, im Interesse der Erhaltung des Gemeindevermögens für künftige Generationen
verpflichtet sind, die Genehmigung der Regierungsbehörde einzuholen ³), und insofern die
Gemeinden alljährlich einen Voranschlag über ihre Ausgaben und Einnahmen (den Ge-
meindeetat) anzufertigen und dem vorgesetzten Oberamte zur Prüfung und Genehmigung,
die Gemeinden erster Klasse wenigstens zur Prüfung, vorzulegen haben ⁴). Außerdem
ist das Verwaltungsrecht der Gemeinden bezüglich der Waldungen auf Grund des Gesetzes
vom 16. August 1875 besonderen Beschränkungen unterworfen (s. § 74, A. 1). Soweit
ferner den Gemeinden als untersten Verwaltungsbezirken Geschäfte der Staats-
verwaltung übertragen sind, haben die Gemeindebehörden den Verfügungen
der im Instanzenzuge vorgesetzten Staatsbehörden Folge zu leisten.
Als solche vom Staate übertragene Funktionen sind u. A. folgende hervor-
zuheben:
1. Die Verwaltung der Landespolizei im Gemeindebezirke ⁵).
2. Die Fürsorge für die Unterstützungsbedürftigen nach Maßgabe des R. G. v.
6. Juni 1870, indem jede Gemeinde in der Regel einen Ortsarmenverband bildet ⁶) (s. u. § 73 D. 2).
3. Die Ausübung einer beschränkten Civiljustiz, bestehend in der Vorentscheidung
von Bagatellstreitigkeiten nach Maßgabe des R.G.V.G. § 14 Z. 3, und des Ausf.G. zur C. Pr.O.
v. 18. Aug. 1879 Art. 3—14.
4. Die Verwaltung des Gerichtsvollzieherdienstes nach Maßgabe der Art. 29—32 des
Ausf.G. zum G.V. G. v. 24. Jan. 1879.
5. Die Ausführung der Zwangsvollstreckung in das unbewegliche Vermögen als
„Vollstreckungsbehörde" nach Maßgabe des hierauf bezüglichen Ges. v. 18. Aug. 1879.
6. Die Mitwirkung bei der Zwangsvollstreckung wegen öffentlichrechtlicher
Leistungen nach dem hierüber erlassenen Ges. v. 18. Aug. 1879.
1675 & Die Wahrnehmung der standesamtlichen Funktionen nach § 4 des R. G. v. 6. Febr.
1875 ⁷).
1) Ein Analogon der civilrechtlichen Prodigalitätserklärung, als Korrektiv gegen die Wir-
kungen des allgemeinen Wahlrechts in Gemeindeangelegenheiten! Durch Königl. V. O. v. 25. Sept.
1855 wurden 39 Gemeinden in solcher Weise unter Staatsaufsicht gestellt, eine weitere durch Königl.
V.O. v. 10. Febr. 1858. Der größte Theil dieser Gemeinden ist jetzt wieder in die freie Selbst-
verwaltung eingesetzt.
2) Ueber dieses Aufsichtsrecht vgl. § 64 und 90 des Verw. Ed. u. §§ 9 u. 10 der Vollz-Verf.
zu der Verw.Nov. v. 21. Mai 1891; ferner Art. 17 der Verw.Nov. selbst u. die M. Verf. v. 19. Jan.
1892. Beil. Nr. 223 bei Fleischhauer. Bezilich der andern Bezirksaufsichtsbehörden f.
Z.-Huzel, S. 868.
3) Die einzelnen Fälle, in welchen die Genehmigung des Oberamts bezw. der Kreisregierung
Isorderlich ist, sind aufgeführt in Art. 15. u. 25 der Gem.Verw.Nov. v. 21. Mai 1891; s. auch
73.
4) Verw.Ed. §§ 26, 64, Gem. Verw. Nov. Art. 13 u. 14.
5) Verw. Ed. §§ 14, 41, 112—113, Gem. Verw.Nov. Art. 16; bezüglich der Ortspolizei s. o.
6) Ausf.G. v. 17. April 1873 Art. 8.
7) Hierher gehört auch die Führung der statistischen Verzeichnisse über Geburten, Ehe-
schließungen und Sterbefälle (M.Verf. v. 14. März 1876 u. 23. Sept. 1876) und die Führung
des sog. Familienregisters (M. Verf. v. 26. Febr. 1876). Vgl. auch die M. V. v. 2. Juni 1880