§ 72. Das Gemeindebürgerrecht. 223
8. Eine Disziplinarstrafgewalt wegen Ungehorsams und Ungebühr und eine
Polizeistrafgewalt wegen gewisser Uebertretungen nach Maßgabe des Ges. v. 12. Aug.
1879 Art. 2—5, 11.
9. Die Anfertigung der Urlisten für die Wahl der Schöffen und Geschworenen
nach §§ 36—38 des R. G. V.G., Art. 19 des Ausf.Ges. und den Min. Verff. v. 10. Juni 1879 und
16. Juni 1880 ¹).
10. Die Verwaltung der freiwilligen Gerichtsbarkeit im weitesten Umfange: insbeson-
dere gehört hierher das ganze Unterpfandswesen, das Erkenntniß über Verträge (Insinnation) und
die damit zusammenhängende Führung der öffentlichen Bücher (des Unterpfandsbuches, des Kauf-
buches, des Güterbuches), das Inventur-, Theilungs- und Vormundschaftswesen mit dem Rechte
der Aufnahme von Testamenten, Vornahme von Beglaubigungen, Annahme von Depositen ꝛc. ²).
11. Die Mitwirkung bei der Vornahme der Wahlen für den Reichstag und für den
Landtag (Wählerliste, Wahlvorstand, Wahlkommission).
12. Die Unterstützung der Staatsbehörden bei statistischen Erhebungen für
Zwecke des Reiches und des Staates, insbesondere bei den periodischen Zählungen, für welche in
jeder Gemeinde eine Zählkommission unter dem Vorsitze des Ortsvorstehers thätig ist ³).
13. Die Mitwirkung bei der Umlage und Erhebung der direkten Staatssteuern;
s. auch oben S. 198.
14. Die Unterstützung der Militärverwaltung durch Anfertigung der Stammrollen
für das Ersatzgeschäft, die Beschaffung von Lieferungen für das Heer im Kriege und Frieden ⁴).
Ein Zusammenwirken der Gemeinde mit kirchlichen bezw. staatlichen Organen
findet dagegen statt:
α) bei der Verwaltung der örtlichen Stiftungen zu Kirchen-, Schul- und Armen-
zwecken in denjenigen Gemeinden, in welchen eine Ausscheidung des örtlichen Kirchenvermögens nicht
stattgefunden hat (s. u. § 73).
β) bei der Verwaltung des örtlichen Schulwesens, insofern die Gemeinden den
Aufwand für die Volksschulen und die damit zusammenhängenden Anstalten (s. u.), sowie für
höhere Lehranstalten (soweit sie solche aus eigener Entschließung unterhalten bezw. neu errichten
und der Aufwand nicht aus Stiftungen oder aus Staatsmitteln gedeckt wird), zu tragen haben;
wogegen die technische Leitung sämmtlicher Gemeindeschulen durchaus den staatlichen bezw. staatlich-
kirchlichen Behörden zusteht, wie auch die Ernennung der Lehrer regelmäßig durch den König
bezw. die Oberschulbehörde erfolgt. Den Gemeinden steht jedoch eine Mitwirkung bei der Aus-
übung der Schulpolizei durch die Ortsschulbehörde (s. § 73 D. 3) zu.
§ 72. III. Das Gemeindebürgerrecht ⁵) hat seine frühere Bedeutung in Folge der
Reichs- und der neueren Landesgesetzgebung größtentheils verloren. Die besonderen
Rechte der Gemeindebürger im Unterschiede von den bloßen Gemeindeeinwohnern be-
stehen jetzt nur noch ⁶)
1. in dem Recht der Theilnahme an den Wahlen zu den Gemeindeämtern
und in dem Stimmrecht in sonstigen Gemeindeangelegenheiten; sowie in der Fähig-
keit zum Mitgliede des Gemeinderaths und Bürgerausschusses gewählt zu werden ⁷),
2. in dem Rechte der Theilnahme an den sog. persönlichen, d. h. vom
Güterbesitz und der Steuerquote unabhängigen Gemeindenutzungen ⁸) aus dem
u. 3. März 1881; ferner v. 17. April 1891, R.Bl. S. 59 u. die M. Verf. v. 20. Mai 1891,
A. Bl. S. 35, u. v. 4. April 1892, A. Bl. des JustizM. S. 23.
1) Wenn Sarwey, I S. 359 die Aufstellung der Urliste der Geschworenen dem Ausschusse
(G. V. G. § 40) zuweist, so verwechselt er die Urliste mit der Vorschlagslisten, s. §§ 85, 87, 88
vgl. mit § 36 a. a. O. u. Gaupp, die neuesten Bearb. S. 20.
2) Das Nähere hierüber, insbesondere über die Thätigkeit der Waisengerichte und Notare
s. u. § 82.
3) M. Verf. v. 19. Juni 1880; vgl. auch oben S. 222 Nr. 7 Note 7; s. ferner die Vorschr.
d. Bundesraths v. 3. u. d. württ. M. Verf. v. 29. Nov. 1892 betr. die Statistik u. Rechnungsführung
der Krankenkassen (R. Bl. S. 571).
4) Dahin gehört auch die Reichung von Marschgebührnissen bei Einberufungen und Ent-
lassungen, vgl. M. Verf. v. 13. März 1887 u. v. 21. März 1887 (R. Bl. S. 68 f. u. 89).
5) S. das Ges. über die Gemeindeangehörigkeit v. 16. Juni 1885 und die Vollz.Verf. vom
7. Okt. 1885; sowie die Ausgaben von Doll und von Beutter, beide von 1886.
6) Ueber die durch das neueste Recht (seit 1886) beseitigte Unterscheidung von Bürgern und
Beisitzern s. d. I. Aufl. S. 177; vgl. auch Gem. Ang.G. Art. 41.
7) Art. 1 a. a. O. Zum Ortsvorsteher kann auch ein Nichtgemeindebürger gewählt werden,
ebenso in die für einzelne Geschäftszweige niedergesetzten Deputationen und Kommissionen.
8) Den Gegensatz bilden die auf privatrechtlichem Titel beruhenden Nutzungsrechte, wie z. B.