§ 12. Die Reichsverwesung. 57
a. Zeigt sich schon bei Lebzeiten des Regierungsvorgängers eine solche Unfähigkeit bei
dem zunächst zur Erbfolge bestimmten Familienglied, so ist noch unter der Regierung des
ersteren durch ein förmliches Staatsgesetz über den künftigen Eintritt der außerordentlichen
Reichsverwesung zu entscheiden. Darüber, ob eine solche dauernde Unmöglichkeit der Selbst-
regierung durch die körperliche oder geistige Beschaffenheit des Thronfolgers begründet er-
scheint, haben die gesetzgebenden Faktoren frei zu entscheiden. Das zu erlassende Gesetz
enthält, als auf § 13 der V. U. beruhend, keine Verfassungsänderung, und kann auch aus
der Initiative der Stände hervorgehen.
β. Würde dagegen während der Regierung eines Königs oder bei dem Anfalle der
Thronfolge der König durch ein solches Hinderniß von der eigenen Verwaltung des König-
reichs abgehalten sein, ohne daß schon zuvor nach a. für diesen Fall Vorsorge getroffen
worden, so hat längstens binnen Jahresfrist der Geheime Rath eine Versammlung sämmt-
licher im Königreich anwesenden volljährigen, nicht mehr unter väterlicher Gewalt stehenden
Prinzen des Königl. Hauses mit Ausschluß des zunächst zur Regentschaft berufenen Agnaten
zu veranlassen. Von dieser Versammlung soll dann auf vorgängiges Gutachten des Geheimen
Rathes durch einen nach absoluter Mehrheit zu fassenden Beschluß mit Zustimmung
der Stände über den Eintritt der gesetzmäßigen Regentschaft entschieden werden. V. U. § 13.
In wiefern körperliche Gebrechen eine Unmöglichkeit der Selbstregierung begründen,
ist eine reine Thatfrage, deren Lösung natürlich erleichtert wird, wenn der noch hand-
lungsfähige Monarch selbst die Einsetzung der Regentschaft veranlaßt. Durch einfache Ver-
ordnung des regierenden Königs selbst kann eine Reichsverwesung mit den nachher anzu-
führenden Wirkungen nicht eingesetzt werden.
Was das Verfahren betrifft, so schließt der Wortlaut der V. U. a. a. O. die Einladung
auch der gerade außerhalb Württembergs sich aufhaltenden Prinzen nicht unbedingt aus; da-
gegen fehlt es an einer Bestimmung darüber, wer in einem solchen Falle, wenn die Stände
nicht versammelt sind, an der Stelle des regierenden Königs die Stände einzuberufen hat,
um deren Zustimmung herbeizuführen. Da die Verfassungs-Urkunde dem Geheimen Rathe
die Einberufung der Agnaten überträgt, so scheint die Konsequenz darauf hinzuweisen,
ihm auch die Einberufung der Stände zu übertragen ¹).
c) Eine Reichsverwesung kann auch dann eintreten, wenn zwar keiner der unter
a. und b. angeführten Fälle vorliegt, der König aber „aus einer anderen
Ursache an der eigenen Ausübung der Regierung verhindert ist (V. U. § 11)“ ²).
Hierher gehört der Fall, wenn die Thronfolge ungewiß, z. B. von der zu erwartenden
Geburt eines Prinzen abhängig ist, wenn die Legitimität oder Primogenitur erst
der Feststellung bedarf, oder wenn eine dauernde faktische Verhinderung in der
Ausübung der Regierung z. B. Gefangenschaft vorliegt. Der § 13 der V. U.
(s. o. Lit. b) findet hierbei keine Anwendung, weil derselbe ein durch die Geistes-
oder körperliche Beschaffenheit begründetes Hinderniß voraussetzt.
1) Wenn man nicht dem zunächst bloß durch den Beschluß der Agnaten berufenen Reichs-
verweser diese Befugniß bereits beilegen will; allein hierdurch würde dem Rechte der Stände vor-
gegriffen und dem Reichsverweser eine Befugniß beigelegt, welche er erst durch die Zustimmung der
Stände erlangen soll; vgl. auch Mohl, I S. 291 ff. Anders in Preußen: s. Rönne, I S. 181,
v. Stengel in dies. Hdb. S. 45.
2) Der § 13 der V. U. erschöpft nicht alle Fälle einer sog. außerordentlichen Reichsverwesung.
Dieser Irrthum ist bloß durch die gar nicht verabschiedeten und nicht zum Verfassungstext gehörigen
Ueberschriften von §§ 12 u. 13 entstanden (s. o. S. 10 N. 5). Der § 13 enthält nur besondere
Bestimmungen für den Fall der dauernden Unfähigkeit; für alle übrigen Fälle der Reichsverwesung
(§ 11) gilt der § 12. Eine Lücke ist nicht vorhanden. In den im Text aufgeführten Fällen tritt
daher ohne ein Verfahren nach § 13 kraft Gesetzes der nächste Agnat als Regent ein.