58 Vierter Abschnitt: Die Organisation des Staates. I. Der König. § 12.
2. Die Berufung zur Reichsverwesung wird, — unter Ausschluß der autonomen
Regelung seitens des jeweiligen Königs — nur durch die V. U. § 12 bestimmt. Hiernach
wird die Reichsverwesung durch den dem verhinderten König der Erbfolge nach nächsten
erbfolge- und regierungsfähigen Agnaten geführt. Erlangt später ein näher berechtigter
Agnat, z. B. durch Eintritt der Großjährigkeit, die Befähigung, so tritt mit diesem
Momente von Rechts wegen ein Wechsel in der Regentschaft ein. Ist kein fähiger Agnat
vorhanden, so fällt die Regentschaft an die Mutter und nach dieser an die Großmutter
des Königs von väterlicher Seite.
3. Die Rechte des Reichsverwesers. Der Reichsverweser übt die Staatsgewalt ¹) in
demselben Umfange, wie sie dem König zusteht, im Namen des letzteren verfassungsmäßig
aus; daher steht auch der Geheime Rath und jetzt das Staatsministerium zu dem Reichs-
verweser in demselben Verhältnisse, wie zu dem regierenden König. V. U. § 15. Der
König bleibt hiernach der Träger der Staatsgewalt. Eben deßhalb kommt die „Heiligkeit
und Unverletzlichkeit“ (V. U. § 4) dem Reichsverweser nicht zu. Es finden daher auch bei
Thätlichkeiten und Beleidigungen nur die §§ 96 und 97, 100 und 101 des Str.G. B.
über den besonderen Schutz der Mitglieder der landesherrlichen bezw. bundesfürstlichen
Häuser Anwendung ²). Dagegen sind für die Regierungshandlungen des Reichsverwesers
nur die Minister, welche sie kontrasignirt haben, nach § 51 der V. U. verantwortlich ³).
Uebrigens hat der Reichsverweser, wie der König, bei Uebernahme der Regierung den
Ständen die Beobachtung der Landesverfassung feierlich zuzusichern (V.U. § 14).
Bei der Ausübung der dem König zustehenden Rechte ist der Reichsverweser nach der
Verfassung nur in folgenden Beziehungen beschränkt:
a) Jede während einer Reichsverwesung verabschiedete Abänderung eines Verfassungs-
punktes gilt nur auf die Dauer der Regentschaft. V. U. § 15 Abs. 2.
b) Der Reichsverweser kann kein Mitglied des Geheimen Rathes anders als in Folge
eines gerichtlichen Erkenntnisses entlassen. Die Entlassung der Minister ist ihm
nicht verwehrt, nur bleiben dieselben Mitglieder des Geheimen Rathes. V. U.
a. a. O.
c) Der Regent kann keine Standeserhöhungen vornehmen, keine neuen Ritterorden
und Hofämter errichten; V. U. a. a. O ⁴).
d) Während der Regentschaft können die heimgefallenen kronlehenbaren Erbämter
nicht wieder verliehen werden ⁵).
Findet die Reichsverwesung wegen Minderjährigkeit statt, so ist für die Er-
ziehung des Königs eine etwa von dem Regierungsvorgänger getroffene und dem Geheimen
Rathe bekanntgemachte Anordnung maßgebend. In Ermangelung einer solchen gebührt die
Erziehung des minderjährigen Königs der Mutter und, wenn diese nicht mehr lebt oder
— was nach Art. 1 des Hausgesetzes vom Jahre 1828 gleichbedeutend ist — wenn die
Mutter in Folge der Wiederverheirathung aufgehört hat, Mitglied des Königl. Hauses zu
sein, der Großmutter von väterlicher Seite; jedoch kann die Ernennung der Erzieher und
1) Ebenso die Episkopalrechte, jedoch nur soweit der Reichsverweser der evangelisch-lutherischen
Kirche angehört; V. U. §§ 75, 76 und Riecker, Die evang. Kirche Württ. S. 44 N. 2.
2) Vgl. auch §§ 80 u. 81 des Str.G. B. und G. Meyer, St. R. § 92 N. 35.
3) Auch nach beendigter Regentschaft: Mohl, 1 § 63, G. Meyer, St.R. § 92 N. 36,
Schulze, preuß. St. R. § 70, v. Stengel a. a. O. S. 45.
4) Die Beschränkungen, welche früher bezüglich der Verleihung einzelner Orden bestanden,
sind jetzt aufgehoben; s. die Statuten des Kronordens v. 1. Sept. 1892 § 1 und die Statuten des
Friedr.-Ordens v. 27. Dez. 1886 § 1.
5) V. U. § 15 Abs. 2, vgl. mit dem Ges. v. 8. Okt. 1874 Art. 1—5.