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78 Die Gerichtsverfassung
Die Rechtsanwaltschaft ist im Deutschen Reiche allgemein frei—
gegeben, d. h. zu ihrer Ausübung muß jeder, welcher die Fähigkeit
zur Ausübung des Richteramts (s. Nr. 207) erlangt hat, seitens der
Landesjustizverwaltung zugelassen werden, es sei denn, daß er sich
dieser Zulassung unwert gemacht hat oder daß körperliche oder
geistige Gebrechen ihn zur Erfüllung der Berufspflichten eines An—
waltes unfähig machen. In Zivilsachen darf ein Rechtsanwalt regel—
mäßig nur bei demjenigen Kollegialgericht (s. Nr. 210) tätig sein, bei
welchem er dauernd zugelassen ist; in Strafsachen dagegen und in
— ht ncchen Zivilprozessen kann jeder Rechtsanwalt überall auf-
reten.
Die Rechtsanwälte jedes Oberlandesgerichtsbezirks bilden eine
Anwaltskammer, welche berufen ist, die gemeinsamen Inter-
essen des Anwaltstandes zu vertreten. Diese Kammern wählen sich
jeweils einen aus einer größeren Anzahl von Mitgliedern bestehenden
Vorstand. Letztere bildet das Ehrengericht der Anwälte.
Dieses hat gegen Anwälte, die ihre Berufspflichten verletzen, mit
Strafen einzuschreiten, welche in Warnung, Verweis, Geldstrafen, ja
auch in Ausschluß aus der Rechtsanwaltschaft bestehen können. Ueber
den Ehrengerichten steht als oberste Instanz der beim Reichsgericht
zu Leipzig gebildete Ehren gerichtshof.
Die Gebühren und Auslagen, welche den Rechtsanwäl-
ten für ihren Beistand von den Parteien zu zahlen sind, wurden, so-
weit sich ihre Tätigkeit auf Zivilprozeßsachen, Strafsachen und Kon-
kurssachen bezieht, reichsgesetzlich für das ganze Reich einheitlich
geregelt. Für andere Angelegenheiten sind die Gebühren in Bayern
durch besondere Königliche Verordnungen genau bestimmt.
2. Kapitel.
Das Strafrecht.
Was wir tun dürfen und unterlassen müssen, das sagt uns zu-
meist das Gewissen oder die Sitte. Aber nicht alles, was den Geboten
der Moral oder der Sitte widerstreitet, ist auch vom Gesetze mit Strafe
bedroht. Der Staat verbietet und ahndet durch Strafen nur solche
Handlungen, die er nicht dulden kann, weil sie das öffentliche Wohl
oder die Rechte einzelner verletzen oder gefährden.
* Daher gilt auch regelmäßig nicht die Entschuldigung, man habe
die strafrechtliche Vorschrift nicht gekannt: Unkenntnis des Strafgesetzes
schützt vor Strafe nicht.