Zweck, Begriff und Grundsätze des Zivilprozeßverfahrens 191
nung im Rechte Verletzten häufig durch Leidenschaft getrübt ist, würde
jede Gewaltanwendung in der Regel wieder mit Gewalt beantwortet
werden, und bald könnte von Recht überhaupt kaum mehr die Rede
sein. Wer daher seine Rechte gegenüber einem Widerstrebenden zur
Geltung bringen will, muß zunächst im geordneten gerichtlichen Ver—
fahren seinen Anspruch feststellen lassen und sodann mit Durchfüh—
rung des Richterspruchs die hierfür vom Staate bestellten Organe
beauftragen.
Den Inbegriff der Rechtsgrundsätze über das Verfahren, welches
dazu dient, die privaten Rechtsansprüche zur gerichtlichen Anerkennung
und zur Durchführung zu bringen, nennen wir das Zivil—
prozeßrecht. Dasselbe ist in der am 1. Oktober 1879 in Kraft
getretenen, im ganzen Reiche geltenden Zivilprozeßord-
mung für das Deutsche Reich enthalten.
Von dem Strafverfahren unterscheidet sich der Zivilprozeß
grundsätzlich dadurch, daß das erstere von den Gerichten in der Regel
ohne Zutun der Beteiligten durchgeführt wird, weil das öffentliche
Interesse die Bestrafung der Uebeltäter verlangt. Im Zivilprozeß
dagegen handelt es sich nur um private Interessen, deren Verfolgung
den Privatpersonen, den Parteien, überlassen wird. Es herrscht daher
im Zivilprozeß im Gegensatz zum Strafprozeß der Grundsatz
des Parteibetriebs die Partei selbst ladet in der Klageschrift
den Beklagten zur gerichtlichen Verhandlung, d. h. sie fordert ihn auf,
zu einem vom Gericht bestimmten Zeitpunkt vor Gericht zu erscheinen;
sie selbst oder der von ihr beauftragte Gerichtsschreiber läßt die
Klageschrift dem Gegner zustellen. Wenn ferner die Parteien den
Rechtsstreit nicht weiter betreiben, so ruht das Verfahren. Das schließ-
lich erwirkte Urteil muß, um rechtskräftig zu werden, im Auftrage
der Partei dem Gegner zugestellt werden, und Sache der Partei ist
schließlich auch die Vollstreckung des Urteils.
Mit dem Grundsatze des Parteibetriebs hängt enge zusammen,
daß das Gericht im Zivilprozeßverfahren an die Vorträge
und Anträge der Parteien gebunden ist, d. h. das
Gericht kann einer Partei nie mehr und nichts anderes zusprechen,
als sie verlangt; eine Behauptung ferner, die vom Gegner nicht be-
stritten wird, hat dem Gericht als wahr zu gelten, und eine bestrit-
tene Behauptung, für welche von der behauptenden Partei kein Be-
weis erbracht wird, ist vom Gericht nicht zu berücksichtigen.
Früher (man erinnere sich an die Zeiten des ehemaligen Reichs-
kammergerichts, vor welchem die Prozesse häufig viele Jahrzehnte
lang dauerten) hat man mit dem schriftlichen Zivilprozeßverfahren
schlimme Erfahrungen gemacht. Unser deutsches Prozeßverfahren be-
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