Die Landwirtschaft und die Viehzucht 371
diese sodann in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts dadurch, daß
die Ergebnisse der naturwissenschaftlichen Forschung ihr nutzbar
gemacht wurden; dies geschah besonders durch Justus Liebig, den Be—
gründer der Ackerbauchemie, welche ermöglicht, dem Boden je-
weils diejenigen chemischen Bestandteile, deren er bedarf, in Form von
künstlichen Düngemitteln zuzusetzen und damit zu der von einem
bestimmten Wechsel der Fruchtarten unabhängigen, der sogenannten
freien Wirtschaft, überzugehen. Durch Einführung zahl-
reicher verbesserter Geräte und Maschinen wurde endlich der land-
wirtschaftliche Betrieb immer mehr vervollkommnet und hier-
durch eine wesentliche Erhöhung des Reinertrags erzielt. Wenn
gleichwohl unsere Landwirtschaft seit Ende der siebenziger Jahre sich
in gedrückter Lage befindet und um ihre Existenz zu kämpfen hat,
so rührt dies hauptsächlich von der durch die Entwicklung des Welt-
verkehrs hervorgerufenen Konkurrenz mit ausländischem Getreide
her, welche die Inlandspreise herabdrückte, und dazu noch zeit-
lich zusammenfiel mit einem allgemeinen Sinken des Geldwerts und
einem Steigen der Produktionskosten.
Die Frage der Beseitigung des so entstandenen Mißverhältnisses
zwischen Bodenwert und Reinertrag (die sog. Agrarfrage) ist
eine der brennendsten Fragen der Gegenwart. Ihre Lösung wird
allerdings in erster Reihe von einer Zusammenfassung aller Kräfte
der Beteiligten, insbesondere von einer möglichst zweckmäßigen Ge-
staltung des Betriebs und, wo die Kräfte der einzelnen nicht aus-
reichen, in ihrem korporativen Zusammenschluß zu suchen sein.
Daneben aber kann und darf die Landwirtschaft zurzeit der tatkräf-
tigen Unterstützung durch die Staatsgewalt nicht entbehren.
Ein dauernder Zurückgang der Landwirtschaft würde die wirt-
schaftliche Kraft und politische Machtstellung des Staates in ihren
Grundfesten erschüttern. Der landwirtschaftlichen Bevölkerung, wel-
cher mehr als ein Drittel der Gesamtbevölkerung des Deutschen
Reiches angehört, liegt zunächst die bedeutsame Aufgabe ob, die für
das ganze Volk unentbehrlichsten Nahrungsmittel (Brot, Fleisch und
Milch) zu schaffen; tatsächlich ist sie noch imstande, ungefähr sieben
Achtel des gesamten deutschen Getreidebedarfs und weitaus den
größten Bedarf an Vieh selbst zu decken. Verlören wir unsere Land-
wirtschaft, so würden wir ganz auf die (besonders in Kriegszeiten)
unzuverlässige Zufuhr aus dem Auslande angewiesen sein und damit
in Abhängigkeit von diesem geraten. Die Landwirtschaft liefert aber
auch das Rohmaterial für eine große Reihe von Gewerben und bildet
daher eine Hauptstütze der Industrie. Sie ist zugleich der sicherste
und regelmäßigste Abnehmer für einen großen Teil der Erzeugnisse
dieser heimischen Industrie, weshalb es im eigensten Interesse der
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