Full text: Bürgerkunde.

Das Gewerbewesen 395 
V. Die gewerblichen Arbeiter. 
1. Die Arbeiterfrage. 
Die Entwicklung des heutigen Fabrikbetriebs hatte zur Folge, daß 
zwischen den Arbeitern und den Unternehmern ein Gegensatz entstand, 
wie ihn die frühere Zeit in ähnlicher Schärfe nicht gekannt hatte. 
Während ehemals die Arbeiter mit ihren Meistern, deren häuslicher 
Gemeinschaft sie zumeist auch angehörten, durch mannigfache persön- 
liche Beziehungen verknüpft waren, und hoffen durften, selbst einmal 
Meister zu werden, stehen sich die heutigen Fabrikarbeiter und die 
Unternehmer in der Regel lediglich als Vertragsparteien gegenüber. 
Abgesehen davon, daß die Größe der Unternehmungen und die durch 
sie geforderte strenge Disziplin die Anknüpfung persönlicher Bezie- 
hungen sehr erschweren, bilden die Besitz= und Bildungsunterschiede 
zwischen beiden Klassen eine Kluft, welche um so mehr empfunden 
wird, als diese Unterschiede es dem Arbeiter in den meisten Industrie- 
zweigen fast unmöglich machen, sich jemals zur Stellung des Unter- 
nehmers emporzuschwingen. Dazu kommt, daß der Lohn der Arbeiter 
mit deren erheblich gesteigerten Ansprüchen an die Lebenshaltung 
nicht gleichen Schritt hielt, und daß die gesteigerte Volksbildung den 
Arbeitern das Bewußtsein ihrer untergeordneten und vielfach gedrück- 
ten Lage gab. 
Die Frage, wie dieser tiefgreifende Gegensatz zwischen Arbeiter- 
schaft und Unternehmertum zu überbrücken und damit der soziale 
Friede wiederherzustellen ist, wird als die Arbeiterfrage be- 
zeichnet. Ihre Lösung ist eine der wichtigsten Aufgaben der heutigen 
Zeit. 
Anfänglich glaubte die Staatsgewalt, in dem geschilderten Kampf 
sich neutral halten zu müssen; aber bald überzeugte man sich, daß 
die Arbeiterbevölkerung eines besonderen staatlichen Schutzes bedarf. 
So entstand die sog. Arbeiterschutzgesetzgebung (s. Nr. 
1209 u. folg.), welche bezweckt, den Arbeitern durch Sicherung von 
Leben und Gesundheit die Arbeitsfähigkeit zu erhalten, sowie die 
Arbeiterversicherung (s. Nr. 1064), mittels welcher die von 
Krankheiten, Unfällen oder Invalidität betroffenen Arbeiter durch 
Geldmittel unterstützt und ihre Arbeitsfähigkeit, soweit möglich, wie- 
derhergestellt wird. 
Abgesehen von der Staatshilfe, welche doch nur in den dringend- 
sten Fällen Platz greifen kann, ist die Arbeiterschaft zur Verbesserung 
ihrer wirtschaftlichen Lage auf ihre eigene Kraft, die Selbsthilfe, 
angewiesen. Eine solche Selbsthilfe ist aber, da der einzelne Lohn- 
arbeiter dem Unternehmer gänzlich machtlos gegenübersteht, nur 
möglich bei gemeinsamem Vorgehen, das ihrem Verlangen Nachdruck 
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