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34 Das Staatsrecht des Reichs
Gegen gewaltsame Sprengung der Versammlung, sowie gegen
jede gewaltsame Beeinflussung seiner Beschlüsse ist der Reichstag
(wie auch alle deutschen Einzellandtage) durch besondere strafgesetz-
liche Vorschriften (s. Nr. 249) geschüftzt.
6. Die Verhandlungen des Reichstages.
a. Der Reichstag wird zu seinen mindestens alljährlich stattfin-
denden Sessionen (d.h. Sitzungsperioden, s. Nr. 26) durch
den Kaiser nach Berlinss zusammenberufen und regelmäßig mit
einer feierlichen, sog. Thronrede, eröffnet, welche einen kurzen
Ueberblick über den Stand der Politik und die den Reichstag erwar-
tenden Arbeiten enthält.
Bei Beginn seiner Verhandlungen, welche öffentlich
und durch eine Geschäftsordnung geregelt sind, konsti-
tuiert sich zunächst der Reichstag, d. h. er wählt unter dem Vor-
sitz des an Jahren ältesten Mitgliedes (des sog. Alterspräsidenten)
seinen Vorstand, bestehend aus dem Präsidenten, den beiden
Vizepräsidenten"““ und acht Schriftführern. Ferner ernennt der Prä-
sident für das eigene Kassen= und Rechnungswesen des Reichstags
zwei Schatzmeister (sog. Ouästoren).
Die Leitung der Verhandlung steht dem Präsidenten
oder einem der Vizepräsidenten zu. Er bestimmt die Tages-
*“ Das prunkvolle Reichstagsgebäude daselbst wurde hauptsäch-
lich aus Mitteln der französischen Kriegsentschädigung erbaut.
Die wichtigsten Parteien im Reichstag (und in den deutschen Land-
tagen) sind die folgenden:
1. Die konservative Partei, die durch Erhaltung der bestehen-
den Zustände dem allgemeinen Wohle am besten zu dienen glaubt; sie hat
ihre stärkste Stütze im norddeutschen Großgrundbesitz.
2. Die Zentrumspartei, welche ihren Namen daher führt, daß
sie im Reichstag die Mitte der amphitheatralisch angeordneten Sitzreihen
einnimmt. Ihre Mitglieder stehen auf dem Boden der von der katholischen
Kirche vertretenen Anschauungen und Bestrebungen.
3. Neben der nationalliberalen Partei, welcher die natio-
nalen, sowie die freiheitlichen Ziele vor allem erstrebenswert scheinen,
stehen eine Reihe anderer liberaler Parteien (Demokraten, Freisinnige
usw.), die den Nachdruck auf freiheitliche Ausgestaltung der Verfassung und
Verwaltung legen.
4. Die sozialdemokratische Partei endlich vertritt vor-
nehmlich die Interessen des vierten Standes, der Arbeiter, deren Besserstel-
lung sie von einer tiefgreifenden Aenderung unserer staatlichen, gesellschaft-
lichen und wirtschaftlichen Zustände erhofft.
Die Wahl des Präsidenten und der Visepräsidenten gilt zunächst nur
für vier Wochen; die alsdann Wiedergewählten üben ihr Amt während der
ganzen Session aus.