Verfassungsurkunde. § 88. 153
§ 18. b) Gesetzgebung.
Ohne Beistimmung der Stände kann kein Gesetz gegeben,
aufgehoben, abgeändert oder authentisch erläutert werden.
1. Der § 88 hat durch die Reichsverfassung eine wesentliche
Einschränkung erfahren; nach Art. 2 dieser Reichsverfassung gehen
die Reichsgesetze den Landesgesetzen vor (vgl. S. 16);
solange übrigens die Reichsgesetzgebung eine ihr unterstellte Materie
nicht geregelt hat, ist ein Vorgehen der Landesgesetzgebung nicht
ausgeschlossen. Auch das in der württembergischen Verfassungs-
urkunde nicht erwähnte Gewohnheitsrecht kommt als eine
Quelle für die Rechtsnormen in Betracht. Das frühere württem-
bergische Partikularrecht hat jede einem Landesgesetz zuwiderlaufende
Gewohnheit für unverbindlich erklärt; das BGB. dagegen läßt
der Bildung des Gewohnheitsrechts innerhalb der Schranke des
Art. 2 der Reichsverfassung freien Raum. Das Gewohnheitsrecht
ist daher auf dem Gebiete des öffentlichen Rechts in demselben
Umfange, wie im Privatrecht als Rechtsquelle anzuerkennen und
hat tatsächlich für die Verhältnisse des öffentlichen Rechts wegen
der unvollkommeneren Ausbildung der positiven Rechtsordnung
eine größere Bedeutung als im Privatrecht. Bei öffentlich-rechtlichen
Verhältnissen wird das Gewohnheitsrecht sowohl von dem gewöhn-
lichen Sprachgebrauch als von der Landesgesetzgebung mit Vorliebe
als Herkommen bezeichnet9.
2. Die Gesetze im Sinne des § 88 erfordern die Zustimmung
der Stände, die Verordnungen im Sinne des § 89 dagegen können
vom König ohne Mitwirkung der Stände getroffen werden. Ueber
den Unterschied zwischen Gesetz und Verordnung
gibt jedoch die Verfassungsurkunde keine genügende Auskunft; es
fehlt an jeder Bestimmung des Gesetzesbegriffs, und von den Ver-
ordnungen wird nur gesagt, daß sie der Vollstreckung und Hand-
habung der Gesetze dienen. Nach der Verfassungsurkunde von 1815
1) S. die Belege bei Göz, Verwaltungsrechtspflege S. 156,
Gaupp-Göz S. 179 Note 3; über das Gewohnheitsrecht vgl.
Mohl, Staatsrecht Bd. 1 S. 75—84.