168 Verfassungsurkunde. § 93.
1. Mit dem Begriff des Rechtsprechens ist das Erfordernis
der Unabhängigkeit unlösbar verknüpft, soweit daher einer
Behörde die Funktion des Rechtsprechens übertragen ist, muß ihr
auch die Unabhängigkeit zugestanden werden. In § 1 des Gerichts-
verfassungsgesetzes hat dieser Gedanke folgenden Ausdruck gefunden:
„Die richterliche Gewalt wird durch unabhängige nur dem Gesetze
unterworfene Gerichte ausgeübt“.
2. Zur Wahrung der Unabhängigkeit der Gerichte ist den
Richtern im Vergleich mit den sonstigen lebenslänglich angestellten
Beamten ein erhöhter Schutz ihres Rechtes auf das
Amt verliehen (vgl. § 46 VU. S. 76—78) und sind der Dienst-
aufsicht Grenzen gezogen (yvgl. § 92 Vu. Anm. 5).
3. Im Zusammenhang mit der Unabhängigkeit der Gerichte
steht das Recht des Richters, die Gültigkeit der Ge-
setze selbständig zu prüfenz; eine Vorschrift hierüber besteht
in Württemberg nicht, doch ist das Recht von der Doktrin und
Praxis anerkannt. Das Prüfungsrecht muß sich der Natur der
Sache nach auf alle Punkte erstrecken, von denen die Gültigkeit
eines Gesetzes oder einer Verordnung nach der bestehenden Rechts-
ordnung abhängt; in formeller Hinsicht kommt namentlich in Be-
tracht die verfassungsmäßige Verabschiedung mit den Ständen, die
ordnungsmäßige Verkündigung und die Richtigkeit des veröffent-
lichten Textes, in materieller Hinsicht die Frage, ob ein Landes-
gesetz nicht mit einem Reichsgesetz in Widerspruch kommt, ob eine
Verordnung nicht in das der Gesetzgebung vorbehaltene Gebiet
übergreift. Nur insoweit, als die endgültige Entscheidung
über einzelne erhebliche Punkte anderen Organen übertragen ist,
hat auch der Richter die Entscheidung ohne weitere Kritik hin-
zunehmen. So ist beispielsweise für die Legitimation der Mitglieder
der Abgeordnetenkammer und die unter Umständen dadurch be-
dingte Beschlußfähigkeit die Entscheidung der Abgeordnetenkammer
maßgebend (Landtagswahlgesetz Art. 22); die Geschäftsordnung
wird von jeder Kammer selbständig innerhalb der verfassungs-
mäßigen Schranken mit der Maßgabe geregelt, daß über Zweifel
in der Auslegung die betreffende Kammer endgültig entscheidet
(Vu. 8§ 164 a, Geschäfts O. der Kammer der Standesherren § 82, der