Verfassungsurkunde. § 129. 273
Der Verfassungsurkunde sind ruhende Stimmen vollständig un-
bekannt, dem Namen und der Sache nach; auch in den Verhand-
lungen, die der Verabschiedung der Verfassung vorausgegangen
sind, läßt sich keine Spur von ruhenden Stimmen erkennen. So-
lange es in Deutschland noch keine oder nur wenige Eisenbahnen
gab und größere Reisen mit einem erheblichen Aufwand an Zeit,
Mühe und Kosten verbunden waren, hielt es unter Umständen
schwer, die Mitglieder der Ersten Kammer in der zur Beschluß-
fähigkeit erforderlichen hälftigen Zahl zu versammeln; in jener Zeit
war daher die Neigung besonders stark, die Zahl der verfügbaren
lebenslänglichen Mitglieder nach Tunlichkeit zu steigern. Diese
Neigung hat die Einrichtung der ruhenden Stimmen geschaffen
und weiter entwickelt: die Berücksichtigung dieser Stimmen bei der
Berechnung der Zahl der vom König zu ernennenden Mitglieder
ist von der Ersten Kammer der Regierung anempfohlen und von
der Regierung nach einigem Zögern angenommen worden. In
einer Adresse vom 21. Januar 1830 war die Kammer der Stan-
desherren noch davon ausgegangen, daß die ruhenden Stimmen
nicht in Berechnung zu nehmen seien und auch ein Geheimerats-
reskript vom 21. Februar 1830 hatte sich bei der Beantwortung der
Adresse auf den Boden dieser Berechnung gestellt; dagegen ist in
dem Geheimeratsreskript vom 19. Januar 1833 in Bescheidung einer
Eingabe der Ersten Kammer vom 2. April 1830 bemerkt: „Da ihr
nunmehr selbst den Antrag darauf macht, daß in Beziehung auf
die Zahl der von Uns zu ernennenden Mitglieder eurer Kammer
für künftige Berechnungen als feste Norm angenommen werde,
die ruhenden Stimmen mitzuzählen, so hat es dabei sein Bewen-
den.“ Hierauf hat die Erste Kammer mit der Adresse vom 9. März
1833 entgegnet: „Da Eure K. Majestät damit einverstanden zu sein
allergnädigst erklärt haben, daß für künftige Berechnungen des
Zahlenverhältnisses zwischen den durch Geburt Berechtigten und den
von Eurer K. Majestät ernannten Mitgliedern der Ersten Kammer
als feste Norm angenommen werde, die ruhenden Stimmen mitzu-
zählen, so würde künftig eine gleiche Behandlungsweise von seiten
der hohen Staatsregierung sowohl als von seiten der Ersten Kam-
mer hierin eintreten und es somit auch keinem Anstand unterliegen,
Göz, Verfassungsurkunde. 18