46 Verfassungsurkunde. 8 27.
hob alle noch bestehenden aus der Verschiedenheit des religiösen
Bekenntnisses hergeleiteten Beschränkungen der bürgerlichen und
staatsbürgerlichen Rechte auf und verfügte namentlich die Unab-
hängigkeit der Befähigung zur Teilnahme an der Gemeinde= und
Landesvertretung und zur Bekleidung öffentlicher Aemter vom reli-
giösen Bekenntnis.
2. Ueber die Organisation der evangelischen und katholischen
Kirche und über das Verhältnis der Staatsgewalt zu diesen Kirchen
vgl. §§ 70 ff. VI. Nach dem Gesetz vom 9. April 1872, betreffend
die religiösen Dissidentenvereine, ist die Bildung reli-
giöser Vereine außerhalb der vom Staat als öffentliche Körper-
schaften anerkannten Kirchen von einer staatlichen Genehmigung
unabhängig. Es steht diesen Vereinen das Recht der freien gemein-
samen Religionsübung im häuslichen und öffentlichen Gottesdienst,
sowie der selbständigen Ordnung und Verwaltung ihrer Angelegen-
heiten zu; doch dürfen sie nach ihrem Bekenntnis, ihrer Verfassung
und ihrer Wirksamkeit mit den Geboten der Sittlichkeit oder mit der
öffentlichen Rechtsordnung nicht in Widerspruch treten. Seit 1. Ja-
nuar 1900 fallen diese religiösen Vereine unter die §§ 43 und 61
BGB. und erlangen hiernach die Rechtsfähigkeit durch Eintragung
in das Vereinsregister des zuständigen Amtsgerichts 1). Kinder, die
in gültiger Weise keiner Religionsgemeinschaft oder einer solchen
angehören, für die in den öffentlichen Schulen Religionsunterricht
nicht erteilt wird, sind auf Antrag der Erziehungsberechtigten von
der Teilnahme am Religionsunterricht zu entheben?).
3. Die Gewissensfreiheit schließt die Freiheit des Austritts aus
jeder religiösen Gemeinschaft in sich; mit der Erreichung der sog.
Unterscheidungsjahre, für Knaben mit vollendetem 16., für Mädchen
mit vollendetem 14. Lebensjahre beginnt die Fähigkeit, das religiöse
Bekenntnis selbständig zu wählen:). Form und Wirksamkeit des
1) Vgl. Göz, Verwaltungsrechtspflege, S. 224, Note 5.
2) Vgll. Amtsbl. des Ev. Konsistoriums 1904, Bd. 13, S. 210.
3) Vgl. Gaupp-Göz S. 415, Note 4: Das Konsistorium und
das Ministerium des Kirchen= und Schulwesens nehmen an, daß
gewohnheitsrechtlich in Württemberg das Recht der freien Kon-
fessionswahl ohne Unterscheidung zwischen Knaben und Mädchen
mit dem zurückgelegten 13. Lebensjahre eintrete.