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zutreffender wäre das Bild der Konzentrität, wobei die Verfassung
den Mittelpunkt abgibt. Betrachtet man unsere Erscheinung unter
diesem Gesichtspunkt, dann hat man das Element der Zeit aus-
geschaltet, das für die Untersuchung unserer Erscheinung ohne
Belang ist und höchstens zu einer Fehlerquelle werden kann.
Durch die Mitbeachtung der Zeit wird Zusammengehöriges in
eigentümlicher Weise zerdehnt und nehmen Dinge den Schein der
Distanziertheit an, die für die juristische Betrachtung beieinander,
wenn nicht gar ineinander liegen. Jede wann immer vor sich
gehende Rechtsänderung — eine Aenderung nur für die auf das
materielle der Sache gehende Betrachtung — ruht bereits sozu-
sagen in den Falten der Verfassung, von deren Standpunkt aus
es gleichgültig ist, wann sie an dieser Stelle entfaltet wird.
Und diese Entfaltungsmöglichkeit kann nun auch kraft des
Verfassungssatzes, der die Verfassungsänderung gestattet, in der
Verfassung selbst gegeben sein. Die materielle Verfassungsände-
rung geht da mit einer formalen Verfassungsgleichheit einher.
Es handelt sich, im Bilde gesprochen, nicht um eine Aufeinander-
gewissermaßen auf einen gemeinsamen Nenner, bringt man sie in eine
Einheit, welche durch die Verfassung repräsentiert wird, und stellt sie sich
der Verfassung gegenüber nur als Ausführungsgesetzgebung vor, dann hat
man allerdings Zurechnungssatz und Zurechnungspunkt, die, wie wir glauben,
das Urteil erlauben, die Gesetzgebung sei dem Staate wiedergewonnen, d.h.
im Grunde erstmals geschenkt.
Das eine Bedenken wird wohl zerflattern, daß die Unmöglichkeit vor-
zuliegen scheint, die Gesetzgebung als Pflichthandlung aufzufassen. Die
Auffassung alsBerechtigung oder Verpflichtung ist wohl nur eine unwesent-
liche, äußerliche Zutat zum Wesen der Norm. Die Norm ist ein beson-
derer Name für Maße auf kulturellem Gebiete. Rechtmäßigkeit istan
sich nichts Gesolltes, sondern lediglich das, das dem Rechtm aße ent-
spricht. Daß man soll oder nicht soll, daß der eine verpflichtet und
der andere berechtigt sei und seine Pflicht verletzt oder sein Recht ge-
braucht habe u. dgl. mehr, sind nur menschliche Denkformen, um die Vor-
stellung faßlicher zu machen. Wir sehen in solchen Ausdrücken keinen
essentiellen Unterschied von dem Urteil, welches das Verhältnis eines
zu messenden Gegenstandes zu der Einheit eines Längen- oder Raummaßes
ausspricht.