14 Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Jan. 14.)
vom niedern Clerus mit besonderem Enthusiasmus begrüßt werden würde.
Im Gegentheil, der niedere Clerus hat in dieser Zeit eine Freiheit kennen
gelernt, die er durch Jahrhunderte entbehrte; er ist selbstständiger geworden,
und aus vielen Gründen, so besonders aus financiellen, muß er sich mit den
Staatsbehörden mehr und mehr auf einen guten Fuß zu stellen suchen.
Ganz bestimmt hat auf diesem Wege der preußische Staat heute Erfolge auf-
zuweisen, welche vor sechs oder acht Jahren noch als undenkbar angesehen
wurden und in dem Kampfe zwischen Rom und Berlin muß doch die Ge-
sinnung und Haltung des katholischen Clerus selbst zuletzt auch in Rechnung
gezogen werden.“ Und im wesentlichen mit dieser Schilderung ganz überein-
stimmend beleuchtet die Kölnische Zeitung den Antrag Windthorst durch
folgende Darlegung: „Durch Artikel 5 des Gesetzes vom 14. Juli 1880 wird
bestimmt, daß gesetzmäßig angestellte Geistliche in erledigten oder in solchen
Pfarreien, deren Inhaber an der Ausübung des Amts verhindert sind, geist-
liche Amtshandlungen vornehmen dürfen, ohne jedoch dabei die Absicht zu
bekunden, dort ein geistliches Amt zu übernehmen; und daß die mit der
Stellvertretung oder Hülfsleistung in einem geistlichen Amte gesetzmäßig be-
auftragten Geistlichen auch nach Erledigung dieses Amtes als gesetzmäßig
angestellte Geistliche gelten sollen. Durch diese Gesetzesbestimmung
hat der letzte Schein von geistlichem Nothstand in den katholi-
schen Landestheilen unserer Monarchie aufgehört. Alle Pfar-
reien, die entweder durch Tod ihrer ehemaligen Inhaber oder infolge Wi-
dersetzlichkeit derselben gegen die Staatsgesetze vorübergehend erledigt waren
und in welchen seither keine Seelsorge ausgeübt werden konnte, bekamen
durch diese Gesetzesbestimmung sofort wieder ihren Gottesdienst.
Die benachbarten Geistlichen, die jahrelang und im Stillen und heimlich da-
selbst die Seelsorge ausgeübt hatten, zogen öffentlich und im Triumph in
diese Pfarreien ein. Und allsonntäglich haben diese Pfarreien jetzt ihren
Gottesdienst, da die Geistlichen überall, wo irgend ein Bedürfniß vorliegt,
die Ermächtigung haben, zweimal zu celebriren. Und so halten dieselben
denn Sonntags regelmäßig in ihrer und der zunächst benachbarten erledigten
Pfarrei Gottesdienst und theilen sich an den Wochentagen in die beiden
Pfarreien, je nachdem hier oder dort ein Amt bestellt ist, eine Hochzeit, ein
Begräbniß u. s. w. stattfindet. Alle Gemeinden, auch die „verwaisten“, ha-
ben also jetzt wieder reichlich Gottesdienst und Seelsorge, und die „armen
gesperrten Geistlichen" haben Stolen- und Meßgebühren — für ein Amt
werden ortsweise 9 Mark gezahlt — in so reichlicher Fülle, daß sie zum
größten Theil in materieller Hinsicht über ihre von den Stipendien systema-
tisch ausgeschlossenen Amtsbrüder, die Staatsgehalt beziehen, lächelnd hin-
wegsehen können. Ueberdies legen sie ja in den meisten Fällen das ihnen
gesperrte Staatsgehalt pro rata der Steuerzettel auf die Gemeindemitglieder
um und scheuen sich zum Theil nicht, denjenigen Pfarrkindern, welche ihren
Beitrag zum Staatsgehalt des Pfarrers nicht leisten, die österliche Commu-
nion zu versagen. — Als vor Jahren infolge des Culturkampfes
die sichtbare locale Hierarchie der katholischen Kirche allmäh-
lich schwand, da entstand sofort an ihrer Stelle die unsichtbare
Hierarchie. Für den Fernstehenden und namentlich den Staat nicht er-
kennbar, denjenigen aber, die es anlangt, bekannt und von ihnen anerkannt,
fungiren fortwährend alle kirchlichen Instanzen. Jeder Geistliche
weiß in jedem Falle, wann er einen Rath oder eine Dispens braucht, an
wen er sich zu wenden hat, und stets erhält er, was er braucht; nur den
dem Staate treu gebliebenen Geistlichen war das mitunter schwer, wie sie
allein ein Hemmniß bildeten für die absolute Terrorisirung der
Laien- und Geistlichenwelt seitens der unsichtbaren geistlichen