Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Zweiundzwanzigster Jahrgang. 1906. (47)

376 Rußland. (Mai 10./13.) 
190. Mai. (Petersburg.) Der Zar eröffnet die Duma mit 
folgender Thronrede: « 
Die durch die göttliche Vorsehung Mir übertragene Fürsorge für 
das Wohl des Vaterlandes bewog Mich, vom Volke Erwählte zur Mit- 
arbeit an den gesetzgeberischen Arbeiten zu berufen. Mit flammendem 
Glauben an eine heitere Zukunft Rußlands begrüße Ich in Ihnen die 
besten Männer, welche zu erwählen Ich Meinen geliebten Untertanen be- 
fohlen habe. Schwere und komplizierte Aufgaben stehen Ihnen bevor. 
Ich glaube, die Liebe zur Heimat und ein heißer Wunsch werden Sie be- 
seelen und werden Sie einigen. Ich aber werde die von Mir gewährten 
Institutionen unerschütterlich bewahren mit der festen Ueberzeugung, daß 
Sie alle Kräfte für den aufopfernden Dienst für das Vaterland verwenden 
werden, zur Klarstellung der Bedürfnisse der Meinem Herzen nahestehenden 
Bauernschaft, zur Aufklärung der Völker und Entwicklung eines Wohl- 
standes, eingedenk dessen, daß für die Größe und das Wohlergehen des 
Staates nicht nur Freiheit nötig ist, sondern auch Ordnung auf der Grund- 
lage des Rechts. Mögen Sie Meine heißen Wünsche erfüllen, Mein Volk 
glücklich zu sehen und Meinem Sohn einen festen, wohlgeordneten und 
aufgeklärten Staat als Erbe hinterlassen zu können. Gott segne die Mir 
im Verein mit dem Reichsrat und der Duma bevorstehende Arbeit! Möge 
dieser Tag eine Verjüngung Rußlands in moralischer Hinsicht und eine 
Wiedergeburt seiner besten Kräfte bedeuten! Gehen Sie an die Arbeit, 
zu der Ich Sie berufen habe, und rechtfertigen Sie das Vertrauen des 
Zaren und des Volkes! Gott helfe Mir und Ihnen! 
10./13. Mai. Die Dumo beschließt in einer Adresse an den 
Zaren allgemeine Amnestie zu fordern. 
Die Forderung stellt unmittelbar nach der Eröffnung Petrunke- 
witsch: Es sei Pflicht der Ehre und Würde, daß das erste freie Wort 
denen geweiht sei, die für die Freiheit der Heimat ihre Freiheit geopfert 
hätten. Das freie Rußland fordere die Befreiung der Verhafteten. (Stür- 
mischer Beifall.) Am 12. bringt Roditschew einen formulierten Antrag 
ein und führt aus: Während des Wahlkampfes, auf dem Wege nach 
St. Petersburg und hier in St. Petersburg selbst haben wir einzig und 
allein das Wort Amnestie gehört. Die Rechtsgelehrten behaupten, in Ruß- 
land bestehe die Todesstrafe nicht, und doch haben allein im Monat April 
99 Hinrichtungen stattgesunden. Die Verzeihung muß allgemein sein; einer 
eingeschränkten Amnestie bedürfen wir nicht. Der Irrtum vom 30. Oktober 
darf nicht wiederholt werden. Lassen Sie uns einmütig sein und lassen 
Sie keine Meinungsverschiedenheiten unter uns über die Amnestie entstehen. 
Alle, die Verbrechen begangen haben, müssen begnadigt werden im Namen 
der Liebe, wie der Apostel Petrus begnadigt wurde. Die allgemeine Ver- 
zeihung ist ein Bindemittel zwischen Kaiser und Volk. (Allgemeiner Bei- 
fall.) Der bäuerliche Abg. Aladyn droht, das Volk werde bei Verweige- 
rung der Amnestie die Gefangenen selbst befreien. Professor Stschepkin: 
Wir müssen ein vollständig klares Verhältnis zwischen uns und der höchsten 
Gewalt herzustellen suchen. Wir verlangen die Amnestie nicht als eine 
einfache Begnadigung von Verbrechern, sondern aus Prinzip, weil wir die 
Gefangenen nicht mehr als Verbrecher betrachten können, da das Regime, 
das sie nach der gegen sie erhobenen Anklage durch Empörung zu stürzen 
versucht haben, nicht mehr besteht. 
Eine Kommission wird beauftragt, einen Entwurf zur Beantwortung 
der Thronrede aufzustellen.
	        
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