Metadata: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Neunundzwanzigster Jahrgang. 1913. (54)

Rußland. (November 1.—11.) 621 
letzterer Posten zeigt eine Abnahme um Rubel 13 Mill. gegen das Vorjahr. 
Was den Staatsschuldenstand des russischen Reiches betrifft, so zeigt 
er seit 1909 eine regelmäßige Abnahme: Ende 1909 bezifferten sich die 
russischen Staatsschulden auf Rubel 9055 Mill., 1912 auf Rubel 8858 Mill. 
Im Jahre 1913 wird nach Berechnungen des Finanzministers eine weitere 
Verringerung Platz greifen und zwar um Rubel 30.34 Mill. durch Amorti- 
sation in terminierten Ziehungen — daraus ist auch eine weitere Ver- 
minderung der Zinsen pro 1914 zu erklären —, so daß Anfang 1914 die 
russische Staatsschuld Rubel 8828 Mill. betragen wird. 
1. November. (Nikolajew.) Stapellauf des Dreadnoughts 
„Kaiserin Maria“ und eines Unterseebootes. 
8. November. (Kiew.) Bei der Fortsetzung des Plädoyers im 
Ritualmordprozeß hielt der greise Verteidiger Karabtschewski eine 
Rede, die wie eine Offenbarung klang. 
Die gesamte Kiewer Gerichtswelt, die in corpore erschienen war, 
um dem Löwen der russischen Advokatur zuzuhören, behauptete einhellig, 
daß eine solche durch Inhalt und Form ausgezeichnete Rede in einem 
Kiewer Gerichtssaal noch nicht gehört worden ist. 
8. November. (Kiew.) Die „Ouelle“ des im Kiewer Ritual- 
mordprozesses tätigen Staatsanwalts und seines Sachverständigen 
Pranaitis. 
Ein Gutachten des Berliner Professors der Theologie D. H. Strack 
weist nach, daß dieses griechisch geschriebene, aus einem Kloster des Vor- 
gebirges Athos bezogene Werk „Das Blutgeheimnis bei den Juden“ von 
dem Mönch und ehemaligen Rabbiner Neophyt 1803 in Jassy in moldauischer 
Sprache veröffentlicht und 1834 in griechischer Uebersetzung erschienen ist. 
Neophyt bezog aber den größten Teil seiner Angaben aus der antiken 
Schrift des Apion, gegen die das bekannte Buch des Flavius Josephus 
gerichtet war. 
9. November. (Petersburg.) Mehr als hundert Rechts- 
anwälte wurden wegen ihrer gesetzwidrigen Einmischung in den 
Kiewer Ritualmordprozeß von der russischen Regierung zur gericht- 
lichen Verantwortung gezogen. 
10. November. (Kiew.) Ende des Ritualmordprozesses. 
Den Bauern und Kleinbürgern auf der Geschworenenbank hatte der 
Gerichtshof zwei Fragen zur Entscheidung vorgelegt: 
1. Ist der Knabe Juschtschinski auf dem Grundstück der Ziegelei Saizew 
ermordet worden? 
2. Hat der Angeklagte Mendel Beilis aus religiösem Fanatismus den 
Mord begangen? 
Die erste Frage wurde von den Geschworenen bejaht, die zweite 
verneint. Der Spruch gibt dem Angeklagten Beilis nach zweieinhalbjähriger 
Untersuchungshaft die Freiheit wieder. 
11. November. Preßstimmen zum Kiewer Urteil. 
„Nowoje Wremja“ sagt: „Das Urteil entspricht den strengsten Forde- 
rungen moralischer Vorsicht und juristischer Genauigkeit.“ „Rjetsch“ sagt: 
„Beilis' Freisprechung ist ein Ventil für die Erregung der Gesellschaft, aber 
die elementarste Voraussicht muß den Staatsbehörden sagen, daß es un-
	        
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