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Mit Recht findet sich der verklagte Landarmenverband durch diese Entscheidung be-
schwert.
Es war nicht Sache des Verklagten, darzuthun, daß S. vor dem 1. Januar 1875 durch
zweijährigen unterstützungsfreien Aufenthalt in Buer einen neuen Unterstützungswohnsitz erworben
habe, sondern Aufgabe des Klägers, zu beweisen, daß der Lauf der zweijährigen Erwerbsfrist in
den bis zu dem gedachten Zeitpunkte verflossenen 3 Jahren 6 Monaten ununterbrochenen Auf-
enthalts länger als 18 Monate geruht, und deshalb beim Beginn der eingeklagten Unterstützung
der Mangel eines Unterstützungswohnsitzes, welchen Verklagter für die vorausgegangene Zeit
keineswegs bestreitet, noch fortbestanden habe. Denn die Sistirung der Erwerbsfrist in Folge
des Empfangs öffentlicher Unterstützung resp. die Dauer der Sistirung hat derjenige Armenver-
band zu beweisen, welcher daraus ableitet, daß die Frist ausnahmsweise nicht abgelaufen sei.
Ebenso folgt es aus allgemeinen Rechtsgrundsätzen, daß ein Armenverband, welcher den Land-
armenverband in Anspruch nimmt, den Mangel des Unterstützungswohnsitzes der Person, um
deren Armenpflege es sich handelt, darzuthun hat, und es kann auch, da eine Präsumtion für
die Fortauer der Landarmenqualität gesetzlich nicht begründet ist, dem Landarmenverbande keines-
wegs angesonnen werden, den Beweis zu führen, daß in dem Domizilverhältnisse einer früher
als domizillos anerkannten Person inzwischen eine Veränderung eingetreten sei.
Der hiernach dem Kläger obliegende Beweis einer öffentlichen Unterstützung der Fa-
milie S. von mehr als achtzehnmonatlicher Dauer in der Zeit vom 1. Juli 1871 bis 1. Ja-
nuar 1875 ist nicht erbracht.
Bis zum 1. Januar 1873 ist die Familie nur ein Mal und zwar im Mai 1872 mit
2 Thlr. zum Ankauf von Lebensmitteln unterstützt worden; in den Jahren 1873 und 1874
folgen sich kleine Unterstützungen, wenn man die ärztlichen Besuche und Arzneien, deren Rech-
nungen am Jahresschlusse aus Armenmitteln bezahlt worden sind, von vornherein als von der
Armenpflege gewährt ansieht, häufiger, jedoch nicht fortlaufend, da in Zwischenräumen von einem
oder mehreren Monaten oft nicht die geringste Unterstützung verabreicht, in Monaten, welche
nicht ganz unterstützungsfrei waren, oft nur eine einzige Arznei, ein einziger ärztlicher Nathschlag
gewährt worden sind. Die in den Akten des Verklagten enthaltenen eigenen Auslassungen des
Klägers in Verbindung mit den Unterstützungsgesuchen und dem ärztlichen Zeugnisse vom 18.
September 1873 lassen keinen Zweifel darüber, daß Unterstützung regelmäßig aus Anlaß von
Krankheiten in der Familie und der daraus hervorgegangenen vorübergehenden Nothstände er-
beten und gewährt worden ist, — schon bei der ersten Bewilligung im Mai 1872 tritt das ge-
dachte Motiv in der aufgenommenen Verhandlung hervor — auch nur in solchen Fällen noth-
wendig war. So lange derartige Nothstände dauerten und Unterstützung aus Armenmitteln
erforderlich machten, sei es nun, daß diese Unterstützung sich auf freie ärztliche Behandlung und
freie Arzenei beschränkte, oder auch Geldspenden zur Bezahlung rückständiger Hausmiethe, zum An-
kauf von Saatkartoffeln ect. umfaßte, so lange dauerte die Unterstützung, beziehungsweise die Hülfsbe-
dürftigkeit, und so lange ruhte die Erwerbsfrist. Die Darstellung der Klage und der Beweis-
antritt des Klägers entbehren aber jeder Substantiirung der Zeitdauer solcher Perioden der
Hülfsbedürftigkeit und Unterstützung, von der irrigen Voraussetzung einer ununterbrochenen Fort-
dauer der Armenpflege und des Unterstützungsbedürfnisses ausgehend, in der ganzen Zeit vom
1. Juli 1871 bis 1. Januar 1875. Auch aus den beigebrachten Belägen und Verhandlungen
läßt sich nur für einige Zeitabschnitte, welche zusammen bei weitem keine achtzehnmonatliche Dauer
erreichen, ein fortlaufendes Unterstützungsbedürfniß aus Anlaß von Krankheit und Noth kon-
struiren. Kläger ist daher beweisfällig geblieben und mußte dem Antrage des Verklagten und
Appellanten entsprechend mit seinem Klageantrage abgewiesen werden, was zur Folge hat, daß
ihm auch die Kosten und baaren Auslagen des Verfahrens zur Last fallen.