Deutschland und das Weltstaatensysten 131
thes und Nicolais, mochte man noch von einem Gegensat des gei—
stigen Lebens und der Bildung in Weimar und Berlin reden können;
aber seit den Tagen Humboldts, Fichtes, Schleiermachers ist dieser
Gegensatz überwunden: die verschiedenen Richtungen des deutschen Le—
bens haben sich ergänzend miteinander verbunden und untereinander
ausgeglichen. Geist und Bildung des deutschen Volkes ist heute nicht
anders in Berlin als in Weimar oder München oder Heidelberg. Die
unendliche Mannigfaltigkeit landschaftlicher Besonderheiten wird durch
das Band der nationalen Intcressengemeinschaft zu einer großen Ein-
heit verbunden. Der industriclle Westen und der agrarische Osten, so
verschieden sic auch in Lebensgewohnheiten und gesellschaftlicher Schich-
tung scin mögen, haben doch längst begriffen, daß der eine Teil auf
den anderen angewicsen ist und daß sie erst in der Verbindung mit-
einander ein lebensfähiges Ganzcs bilden. Große Handelsmetropolen
und Stadtrepubliken wic HBZamburg und Bremen fühlen sich ebenso als
integricrender Bestandteil dieser nationalen Lebens= und Wirtschafts-
einheit wie die Bauernländer Bayern, Hannover, Oldenburg. Dic Be-
wohncr der süd= und mitteldeutschen Gebirgslandschaften, aus denen
unsere Ströme zum Mrcer fließen, blicken mit nicht geringerem Stolz auf
die Flagge am Top unserer Kriegs= und Handelsschiffec, als die Nord-
dentschen in der Ticsebenc und an der Scekante. Aberall regt sich zugleich
mit der selbstbewußten Freudc an der cigenen landschaftlichen Sonder-
art auch das Bewußtsein und die Aberzeugung, daß nur in einem festen
und einmütigen Zusammenschluß aller Stämme und Landschaften Frei-
heit, Wohlfahrt und Macht des deutschen Volkes gesichert ist. Darin
bestecht die Bedentung Preußens für das Deutsche Rcich, daß sein star-
kes, aus dem Orang der Not entsprungenes Staatswesen das feste
Rückgrat für den neuen nationalen Organismus gebildet hat. Der poli-
tisch-militärische Gcist Prcußens ist auch der Geist des neuen Deutschen
Reiches geworden: Bayern, Württemberger und Sachsen fechten für
dieselben vaterländischen Güter und in derselben vaterländischen Be-
geisterung wic Brandenburger, Pommern und Ostpreußen.
Die Einigung Deutschlands und die Begründung des Reiches ist
nicht auf friedlichem Wege möglich gewesen; sie hat auf dem Schlacht-
felde gegen den Widerspruch starker curopäischer Mächtc erkämpft wer-
den müssen; denn sic bedeutete bei unserer zentralen Lage einc wesent-
liche Beränderung in den Machtverhältnissen Europas. Darum hat
sic auch nicht allein durch einc volkstümliche Bewegung, durch patrio-
tische Versammlungen und Beschlüsse herbeigeführt werden könnecn, son-
dern nur durch einc kühne und umsichtige Politik unter monarchischer