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Entschluß der österreichischen Regierung zur Einverleibung Bosniens
hervor (5. Oktober 1908). Es war formell eine Aberschreitung der Be-
stimmungen des Berliner Vertrags, aber sic entsprang aus einem un-
abweisbaren Lebensinteresse der Doppelmonarchie; sie veränderte die
tatsächliche Gestaltung der Machtverhältnisse auf der Balkanhalbinsel
nicht, und allen Befürchtungen wegen weiter ausgreifender Absichten
Osterreichs wurde dadurch die Spitze abgebrochen, daß zugleich der
Sandschak Aovibazar, auf den die Monarchie vertragsmäßige Anrechte
hatte, von ihr an die Türkei zurückgegeben wurde. Trotzdem entstand,
von England aus angefacht, eine große Entrüstung unter den Mächten
über dieses einseitige Vorgehen Österreichs; und für Oeutschland er-
wuchs die schicksalsvolle Frage, wie es sich dazu verhalten solle. Die
Vertragsverpflichtungen kamen dabei nicht in Betracht, sondern nur
die politische Lage. Diese aber wurde von der deutschen Regierung so
aufgefaßt, daß ÖOsterreich-Ungarn in einer so zweifellos aus seinem
Lebensinteresse entspringenden Handlung von Deutschland mit Ent-
schiedenheit und AMachdruck unterstützt werden müsse. Dabei waren nicht
sowohl romantische Gefühle der „Aibelungentreue“ wirksam, sondern
kühle, realpolitische Erwägungen. Der Reichskanzler Bülow erinnerte
damals (9. März 1909) von der Tribüne des Reichstags an das Bis-
marcksche Wort: „Ein Staat wie Österreich-Ungarn wird dadurch, daß
man ihn im Stich läßt, entfremdet und wird geneigt werden, dem die
Hand zu bieten, der seinerseits der Gegner seines unzuverlässigen
Freundes gewesen ist.“ (Rede vom 6. Februar 1888.) Freilich wäre
Österreich als Mitglied der Entente allmählich von der Höhe seiner
früheren Machtstellung herabgesunken; aber auch Deutschland wäre bei
einer zukünftigen weltpolitischen Machtprobe in eine gefährliche Iso-
lierung geraten.
Oer rasche und entschiedene Beistand, den Österreich bei Deutsch-
land fand, hat viel dazu beigetragen, den Sturm der MAlächte gegen.
die Doppelmonarchic zu beschwören und den Frieden zu bewahren. Aber
die Gegensätze wirkten in der Tiefe weiter. Oie großserbische Agitation,
die von Rußland ermutigt wurdec, erlosch krotz der Abmachungen von
1909 nicht und wurde durch den schließlichen Ausgang der Balkan-
kriege von 1912/13 noch gewaltig verstärkt. Sie bedrohte immer sicht-
barer den Bestand der österreichisch-ungarischen Monarchic; und es
verstand sich von selbst, daß Deutschland in den daraus hervorgehenden
Konflikten auch weiterhin fest und entschieden auf Österreichs Seite
stand.
Noch stärker war natürlich die Bedrohung der Türkei durch die rus-