Object: Central-Blatt für das Deutsche Reich. Fünfzehnter Jahrgang. 1887. (15)

  
48 «« Otto Hintze 
  
Entschluß der österreichischen Regierung zur Einverleibung Bosniens 
hervor (5. Oktober 1908). Es war formell eine Aberschreitung der Be- 
stimmungen des Berliner Vertrags, aber sic entsprang aus einem un- 
abweisbaren Lebensinteresse der Doppelmonarchie; sie veränderte die 
tatsächliche Gestaltung der Machtverhältnisse auf der Balkanhalbinsel 
nicht, und allen Befürchtungen wegen weiter ausgreifender Absichten 
Osterreichs wurde dadurch die Spitze abgebrochen, daß zugleich der 
Sandschak Aovibazar, auf den die Monarchie vertragsmäßige Anrechte 
hatte, von ihr an die Türkei zurückgegeben wurde. Trotzdem entstand, 
von England aus angefacht, eine große Entrüstung unter den Mächten 
über dieses einseitige Vorgehen Österreichs; und für Oeutschland er- 
wuchs die schicksalsvolle Frage, wie es sich dazu verhalten solle. Die 
Vertragsverpflichtungen kamen dabei nicht in Betracht, sondern nur 
die politische Lage. Diese aber wurde von der deutschen Regierung so 
aufgefaßt, daß ÖOsterreich-Ungarn in einer so zweifellos aus seinem 
Lebensinteresse entspringenden Handlung von Deutschland mit Ent- 
schiedenheit und AMachdruck unterstützt werden müsse. Dabei waren nicht 
sowohl romantische Gefühle der „Aibelungentreue“ wirksam, sondern 
kühle, realpolitische Erwägungen. Der Reichskanzler Bülow erinnerte 
damals (9. März 1909) von der Tribüne des Reichstags an das Bis- 
marcksche Wort: „Ein Staat wie Österreich-Ungarn wird dadurch, daß 
man ihn im Stich läßt, entfremdet und wird geneigt werden, dem die 
Hand zu bieten, der seinerseits der Gegner seines unzuverlässigen 
Freundes gewesen ist.“ (Rede vom 6. Februar 1888.) Freilich wäre 
Österreich als Mitglied der Entente allmählich von der Höhe seiner 
früheren Machtstellung herabgesunken; aber auch Deutschland wäre bei 
einer zukünftigen weltpolitischen Machtprobe in eine gefährliche Iso- 
lierung geraten. 
Oer rasche und entschiedene Beistand, den Österreich bei Deutsch- 
land fand, hat viel dazu beigetragen, den Sturm der MAlächte gegen. 
die Doppelmonarchic zu beschwören und den Frieden zu bewahren. Aber 
die Gegensätze wirkten in der Tiefe weiter. Oie großserbische Agitation, 
die von Rußland ermutigt wurdec, erlosch krotz der Abmachungen von 
1909 nicht und wurde durch den schließlichen Ausgang der Balkan- 
kriege von 1912/13 noch gewaltig verstärkt. Sie bedrohte immer sicht- 
barer den Bestand der österreichisch-ungarischen Monarchic; und es 
verstand sich von selbst, daß Deutschland in den daraus hervorgehenden 
Konflikten auch weiterhin fest und entschieden auf Österreichs Seite 
stand. 
Noch stärker war natürlich die Bedrohung der Türkei durch die rus-
	        
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