202 I. Buch. Die Grundlagen des deutschen Staates.
Aber nicht minder wird die staatliche Natur der centralen Organi-
sation in Frage gestellt oder doch für ihren Bereich der Begriff des
Staates erweitert, wenn derselben das Hauptmerkmal der Suveränetät
aberkannt wird, wie dies neuerdings von Trieps® geschehen ist. Er
spricht, bei grundsätzlicher Nebenordnung und Gleichberechtigung von
Bundesstaatsgewalt und Einzelstaatsgewalt, doch nur der letzteren
Suveränetät zu, weil nur sie im Besitze der allgemeinen, even-
tuell ipso jure von allen Beschränkungen frei werdenden Herrschaft
sei, während die Centralgewalt nur im Besitze einer bestimmten Summe
von seiten der Einzelstaaten übertragener Einzelrechte sich befinde.
‘Zu einer Erweiterung des Staatsbegriffes in Anwendung auf den
Bundesstaat muls weiterhin auch die Theorie führen, die — allerdings
nur als abstrakte Formulierung — von Laband? und — allerdings
nur als theoretische Konstruktion eines Normalbegriffes — von Rü-
melin° vertreten wird. Sie erkennen die Suveränetät des Bundes-
staates an, aber sie betrachten es als sein eigentliches Wesen, dals
die Reichsgewalt zum direkten, unmittelbaren Objekte ihrer Herrschafts-
rechte nur die Staaten, als juristische Personen, als geschlossene Ein-
heiten hat, diese letzteren also nur Mitglieder und Unterthanen des
Reiches sind, während die Angehörigen der Einzelstaaten nur mittel-
bar von dem Reichsverband und der Reichsgewalt ergriffen werden.
Der Gliedstaat, sagt Laband®, ist nach unten Herr, nach oben Unter-
3 DasDeutscheReich und die Bundesstaaten, 1890, insbesondere 8.45 ff.51.63.
* Staatsrecht d. Deutschen Reichs I 52 ff.
5 Das Beaufsichtigungsrecht des Deutschen Reiches, in Tübinger Zeitschr.
1883 8. 195 ff., und Die Scheidung der Funktionen im Staatsleben und der
Bundesstaat, ebenda 1884 S. 394 ff. 640 ff.
6 Seine abstrakte Formulierung modifiziert Laband ]. c. S. 55. 56 sofort
dahin: „Es wird hierdurch nicht ausgeschlossen, dafs die Reichsgewalt in ein-
zelnen Beziehungen ihre Hoheitsrechte direkt gegen das Reichsgebiet oder
gegen die einzelnen Angehörigen des Reiches ansübt; dafs sie unmittelbar
auf das natürliche Substrat jedes staatlichen Gebildes, Land und Leute, ein-
wirkt.“ Ja er bezeichnet es — S. 75 — geradezu als einen wesentlichen
Unterschied zwischen Staatenbund und Bundesstaat, dafs der erstere eine
eigene Verwaltung und Gesetzesvollziehung gar nicht haben kann, während
der letztere dazu befähigt ist. Nur sei es nicht notwendig, dafs der Bun-
desstaat von dieser Befähigung überall und in allen Richtungen Ge-
brauch mache, er habe vielmehr die Wahl, ob er.dies thun will oder ob
er die Durchführung der Gesetze den Einzelstaaten überlassen oder übertragen
will. Mit diesen Modifikationen richtet sich die Lehre Labands nur noch
gegen die einseitige Auffassung der amerikanischen und Waitzschen Doktrin,
als ob der Bundesstaat ausschliefslich ein Herrschaftsverhältnis über Einzelne,
nicht auch über die Einzelstaaten sei, als ob er sich insbesondere nicht der