220 II. Buch. Die Reichsgewalt.
der Reichskompetenz unanwendbar machen. Denn die Eingangsklausel,
wenn sie eine rechtliche Ermächtigung enthielte, wäre weit genug,
um jede solche Kompetenzänderung mittels einfachen Gesetzes zu recht-
fertigen. Das aber widerspricht zweifellos und unbezweifelt wie der
absichtlichen Grundstruktur der deutschen Verfassung so einer fest-
stehenden Praxis. Denn allerdings in dem Augenblicke, in dem die
Erreichung des Staatszweckes schlechthin zur allgemeinen verfassungs-
mälsigen Ermächtigung des Reiches erhoben wäre, würden theoretisch
und praktisch das begriffliche Merkmal und die politischen Schranken
wegfallen, welche den Bundesstaat von dem centralisierten Einheits-
staat, den Einzelstaat von dem Selbstverwaltungskörper unterscheiden®.
li. Aus den entwickelten Sätzen folgt in logischer Deduktion
der weitere Satz: Jede Änderung der Kompetenzbestimmungen für
das Bundesverhältnis ist Verfassungsänderung, und sie kann mit
Rechtsgültigkeit nur erfolgen in denjenigen besondern Formen,
welche die Bundesverfassung dafür vorschreibt. Nur ist es selbstver-
ständlich, dals damit der allgemeinen Frage nach dem Grundverhältnis
zwischen Gesetzgebung und Gewohnheitsrecht und der besonderen
Frage nicht vorgegriffen ist, ob und unter welchen Voraussetzungen
das positive Recht dem Gewohnheitsrecht die Kraft beimilst, auch
Verfassungsgesetze zu brechen.
Vor allen Dingen — die Folgerung jenes Satzes ist lediglich eine
logischformale, welche an sich eine durchaus verschiedene Gestaltung
der näheren Bestimmungen über die Änderung der Kompetenzen zu-
läfst. Um diese zu gewinnen, ist die Beantwortung einer gewichtigen
Vorfrage erforderlich. Es fragt sich, ob das positive Bundesrecht die
Verfassungsbestiinmungen über die Kompetenzverhältnisse als gleich.
artige und gleichwertige betrachtet mit den andern Verfassungsbe-
stimmungen über die Organisation oder über die innerhalb der
Kompetenzen geregelten Rechte und Pflichten oder ob dasselbe nicht
vielmehr für die Rechtsgültigkeit von Kompetenzänderungen, welche
das alles beherrschende Grundverhältnis zwischen Central- und Einzel-
staat berühren, andere und besondere Formen voraussetzt. Es fragt
sich, ob das positive Bundesrecht an dem Grundsatz festhält, dals
auch für Kompetenzänderungen die Änderung der Bundesverfassung
genügt, ohne zugleich, um des hierdurch erfolgenden materiellen Ein-
griffes in das Verfassungsrecht des Einzelstaates willen, eine formelle
Änderung der Partikularverfassung zu fordern, ja ob dasselbe nicht
an letzter Stelle alle oder doch einzelne Kompetenzänderungen dem
38, v. Mohl, Reichsstaatsrecht S. 134 ff. Seydel, Kommentar $. 22 ff.