Full text: Deutsches Staatsrecht. Erster Band: Die Grundlagen des deutschen Staates und die Reichsgewalt. (1)

240 II. Buch. Die Reichsgewalt. 
Abgrenzung der beiderseitigen Rechtssphären in voller Schärfe und in 
allem Detail trifft auf Schwierigkeiten. 
In der Natur jeder engeren Staatenverbindung, insbesondere aber 
des Bundesstaates, ist die Notwendigkeit begründet, dals der Central- 
staat und die Einzelstaaten in der Grundauffassung des Staatswesens 
und in einer bestimmten Planmälsigkeit ihrer Thätigkeit zusammen- 
stimmen. 
Das fordert, freilich unter erschwerten Bedingungen, Geltung selbst 
in dem Verhältnis, in welchem die Gesetzgebungsrechte beider Teile 
durch die verfassungsmälsige Verteilung und Abgrenzung ihrer mate- 
riellen Kompetenzen sich in Selbständigkeit gegenüberstehen. 
Das System der Rechtsordnung ist nicht nur theoretisch, sondern 
auch praktisch ein Ganzes. In ihm kann kein Punkt so vollkommen 
isoliert und so vollständig behandelt werden, dals er nicht anderweitige, 
vorhergehende oder nachfolgende Regelungen erheischt. Darum muls 
auch das Reich bei der Gesetzgebung auf den Gebieten seiner Kom- 
petenz überall, in gröfserem oder geringerem Umfange, in näherer 
oder entfernterer Beziehung die Voraussetzung machen, dals gewisse 
rechtliche Regelungen auf den Kompetenzgebieten der Einzelstaaten 
bestehen oder erfolgen. So z. B. erstreckt sich die Kompetenz des 
Reiches aus der Klausel über das „Heimatsrecht“ nur auf die eine, 
auf die äufsere Seite der Armenpflege, welche den Anspruch auf öffent- 
liche Unterstützung, die hierzu verpflichteten Subjekte und den Aus- 
gleich der Armenlasten unter diesen regelt; dagegen verbleibt die innere 
Armenpflege, insbesondere die Bestimmung von Mais, Art und Verfahren 
der öffentlichen Unterstützung dem Gesetzgebungsrechte der Einzel- 
staaten. In diesem und in ähnlichen Fällen ist überall die Möglichkeit 
begründet, dafs die beiderseitigen, selbständigen Ordnungen zu Iı- 
konsequenzen, zu Hemmungen und Schmälerungen der gesetzgeberisch 
beabsichtigten Wirkungen führen. Sie werden durch den formellen 
Grundsatz, dafs das Reichsgesetz den Landesgesetzen vorgeht, nicht 
gehoben. Aber ebensowenig kann aus dem allgemeinen Verhältnis, in 
welchem die Reichsgesetzgebung zur Landesgesetzgebung steht, gefolgert 
werden, dals der Einzelstaat in solchen Fällen verpflichtet sei, seine 
Gesetzgebung der des Reiches anzupassen. Denn damit würde das 
Reich berechtigt sein, seine Gesetzgebung auch aulserhalb seines Kom- 
petenzgebietes als eine die Einzelstaatsgesetzgebung dirigierende, 
bindende und damit ihr übergeordnete zu betrachten. Beide aber 
sind je auf ihrem Kompetenzgebiete verfassungsmälsig gleichberechtigt. 
Vielmehr ist bei solcher Sachlage das Reich nur auf das letzte und 
höchste ihm zu Gebote stehende Mittel angewiesen, welches seine
	        
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