Full text: Deutsches Staatsrecht. Erster Band: Die Grundlagen des deutschen Staates und die Reichsgewalt. (1)

$ 38. Das Vorgehen der Reichsgesetze. - 9249 
rechtliche Wirkung ausüben, welche gemeingültig jeder nur als gleich- 
berechtigt anerkannten Rechtsquelle gegenüber jeder anderen gleich- 
berechtigten, wenn auch verschiedenartigen Rechtsquelle beiwohnt. 
Zwischen ihnen entscheidet die Zeit. Die spätere Rechtserzeugung 
setzt jeden früher erzeugten Rechtssatz aulser Geltung, der mit dem 
Inhalt und der Absicht der ersteren in Widerspruch steht oder auch 
nur sich deckt. 
Auch hierauf kann man, freilich nur in einer weiten Deutung, den 
Satz anwenden, dafs das spätere Reichsgesetz den Landesgesetzen 
„vorgeht“. Dann hat das Wort „Landesgesetz“ die weiteste Bedeutung 
jeder irgendwie früher entstandenen, in den Einzelstaaten zur Zeit des 
Erlasses des Reichsgesetzes geltenden Rechtsnorm, gleichgültig ob 
dieselbe einem Landesgesetze im konstitutionellen Sinne oder einer 
Verordnung, einem Verfassungs- oder einfachen Gesetze entspringe, 
gleichgültig ob die Rechtsnorm der Ausflufs irgendwelcher Autonomie 
oder des Gewohnheitsrechtes sei, oder ob ihre Geltung auf Staatsver- 
trägen beruhe und ob diese wiederum unter den Einzelstaaten oder 
zwischen letzteren und fremden Mächten geschlossen seien. Insbesondere 
bewirkt es auch das „Vorgehen“ in diesem Sinne, dals das spätere 
Reichsgesetz das frühere identische Landesgesetz aufhebt; sein In- 
halt gilt nicht mehr kraft landesgesetzlicher Autorität, sondern aus- 
schliefslich von Reichs wegen. 
Allein der Grundsatz: lex posterior derogat priori, trifft nicht das 
besondere Verhältnis zwischen der Reichs- und Landesgesetzgebung. 
Er hat auch Gültigkeit für die zeitliche Abfolge der einzelnen Akte 
nur der Reichsgesetzgebung. Er würde schon aus der Gleichberech- 
tigung der Reichsgesetzgebung mit den anderen Rechtsquellen folgen 
und er bezeichnet darum keinerlei Vorrang, kein „Vorgehen“ der 
einen Rechtsquelle vor den anderen im vollen Sinne dieses Wortes. 
Die Absicht der R.V.a. 2 ist es aber gerade, in dem „Vorgehen“ die 
organische Stellung des Reiches über den Einzelstaaten im Bereiche 
der Gesetzgebung zur Geltung zu bringen. Nicht nur das spätere, 
sondern das Reichsgesetz schlechthin, ohne jede Rücksicht auf den 
Zeitpunkt seiner späteren oder früheren Entstehung, soll den 
Landesgesetzen „vorgehen“. In dieser seiner wahren Absicht bringst 
denn aber R.V. a. 2 den Grundsatz, der die Rechtsstellung des Reiches 
für das Gebiet der Gesetzgebung in entscheidender und besonderer 
Weise charakterisiert, zum Ausdruck, den Grundsatz nämlich: Das 
Gesetzgebungsrecht desReiches hat dieKraft, das sub- 
jektive Recht der Einzelstaaten zur Gesetzgebung in 
dem Umfange, welchen Inhalt und Absicht des er-
	        
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