Full text: Deutsches Staatsrecht. Erster Band: Die Grundlagen des deutschen Staates und die Reichsgewalt. (1)

8 38. Das Vorgehen der Reichsgesetze. 951 
beiwohnt!. Erst die auf Grund der R.V. a. 2 ergehende Reichgesetz- 
gebung hat den Beruf zu befinden, ob und wieweit sie die Reichs- 
gesetze dem Prozesse der unmittelbaren Anpassung des objektiven 
Rechts an die Anschauungen und Bedürfnisse der Rechtsgenossen und 
damit der Gefahr partikularistischer Zersetzung durch das Gewohn- 
heitsrecht entziehen will?. 
Aus dem Grundsatz, wie ihn hiernach R.V. a. 2 festgestellt hat, 
ergeben sich eine Reihe von Folgerungen, die überall da mit 
rechtlich-logischer Notwendigkeit eintreten, wo die Reichsgesetzgebung 
nicht selbst sich eine anderweitige, nur beschränkte Wirkungskraft 
beilegt. 
1. Kein Landesgesetz kann ein Reichsgesetz auf- 
! Die abweichenden Ansichten stützen sich auf verschiedene Gründe. 
1. Sie folgern aus dem Begriffe des Gesetzes, dafs im Prineip dem Gewohn- 
heitsrecht derogatorische Kraft nicht zukommt, also selbstverständlich auch 
nicht gegenüber dem Reichsgesetze. So insbesondere Laband, Staatsrecht d. 
deutschen Reiches I 580. Allein ein solcher prinecipieller Vorrang der Gesetz- 
gebung vor dem Gewohnheitsrechte ist nicht nur theoretisch bestritten und 
nicht überzeugend begründet, sondern er findet auch in dem positiven Rechte 
Deutschlands keine Stütze. S. Goldschmidt, Handelsrecht, 2. Aufl., & 35 
Note 35. 36. Motive zum Entwurfe des bürgerlichen Gesetzbuches I 3 fl. 
Esser, Die derogatorische Kraft des Gewohnheitsrechtes., 1889. — 2. Es 
wird behauptet, dafs R.V. a. 2 jede partikuläre Rechtsbildung gegenüber 
dem gemeinen Rechte der Reichsgesetzgebung verbiete und dies thun könne, 
weil das Reich das den Einzelstaaten übergeordnete Gemeinwesen sei. Die Reichs- 
gesetzgebung schliefse daher zwar jedes entgegenstehende partikulare, nicht 
aber derogatorisches gemeines (Reichs-) Gewohnheitsrecht aus. So insbesondere 
Eisele, Civilistisches Archiv LXIX 293. 295. Cosack, Handelsrecht 8. 13. 
Allein zunächst ist der R.V. a. 2 der Unterschied zwischen gemeinem und 
partikulärem Rechte durchaus fremd; auch ein partikuläres Reichsgesetz 
bricht das Landesrecht, selbst wenn dieses innerhalb seines Gebietes ge- 
meines Recht wäre und nur in irgend einer räumlichen Beschränkung durch 
das Reichsgesetz aufgehoben würde. Insbesondere ist aber aus der Über- 
ordnung eines Gemeinwesens über andere Gemeinwesen zwar eine Überord- 
nung: der Gesetzgebung des einen über die Gesetzgebung oder Autonomie des 
andern, nicht aber eine Überordnung der Gesetzgebung des einen über das 
partikuläre Gewohnheitsrecht zu folgern. Denn die Bildung des Gewohn- 
heitsrechtes erfolgt nicht durch das untergeordnete Gemeinwesen als solches, 
sondern unabhängig von demselben. — 3. Endlich ist Thöl, Handelsrecht, 
6. Aufl., 1 86. 87 der Ansicht, dafs nach R.V. a. 2 kein den Reichsgesetzen 
widerstreitendes Recht irgend einer Art entstehen könne. Allein Wort- 
laut und Absicht der Bestimmung genügen, wie oben ausgeführt, zur Be- 
gründung einer solchen Auffassung nicht. 
2 Von dieser Auffassung geht, wie überdies die Motive ergeben, der 
Entwurf des bürgerlichen Gesetzbuches aus, dessen $ 2 nur unter ihrer Vor- 
aussetzung Bedeutung hat.
	        
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