$ 39. Die Reichsgesetzgebung als Ermächtigung. 255
Die hierbei entscheidende Vorfrage, ob die Reichsgesetzgebung
vollständig oder unvollständig ist, ob sie daher der ergänzenden
Landesgeseizgebung Raum läfst oder nicht, beantwortet sich schlechter-
dings nicht nach freien legislatorischen Erwägungen, aus denen sich
die Möglichkeit oder Nützlichkeit oder selbst die Notwendigkeit
weiterer als der im Reichsgesetz getroffenen Bestimmungen folgern
läfst. Vielmehr darf das Kriterium ausschlielslich und allein gewonnen
werden aus der erkennbaren Absicht des Reichsgesetzes, welche in
jedem konkreten Falle festgestellt werden muls.
Am einfachsten liegen die Fälle dann, wenn das Reichsgesetz
selbst die Absicht der Vollständigkeit ausspricht oder wenn es um-
gekehrt der Landesgesetzgebung — das Wort hier überall einschliels-
lich der Verordnungsform und der partikularrechtlichen Autonomie
gebraucht — seine Ergänzung überweist. So wollen des Beispieles
halber nach ausdrücklichen Bestimmungen vollständig sein:
die Gewerbeordnung in Rücksicht auf die Bedingungen,
unter denen jedermann der Betrieb eines Gewerbes gestattet sein
sol —S1--;
das Strafgesetzbuch für alle „Materien“, welche „Gegen-
stand“ desselben sind — Eg. $ 2 —:; hier beginnt die Schwierigkeit
der Frage erst bei der Bestimmung, welches denn die Materien sind,
die das Strafgesetzbuch zu seinem Gegenstand gemacht hat?;
die Civil- und Strafprozelsordnung für die ordentliche
Gerichtsbarkeit in Strafsachen und in bürgerlichen Rechtsstreitig-
keiten* — Eg. Civp.O. $S 3. 14, Eg. Strfp.O. 88 3.6 —;
die Konkursordnung — Eg.$S4 —.
Hier überall bleibt für die ergänzende Landesgesetzgebung kein
Raum, soweit nicht ausdrückliche Bestimmungen des vollständigen
Reichsgesetzes in einzelnen besonderen Fällen Ausnahmen und damit
Vorbehalte für die Landesgesetzgebung machen. Für solche Vorbehalte
bedienen sich die einschlagenden Reichsgesetze verschiedener Rede-
wendungen: „es bewendet bei den Landesgesetzen“, „das gegenwärtige
Gesetz findet keine Anwendung“, „der Landesgesetzgebung bleibt vor-
behalten“, „unberührt bleiben die landesgesetzlichen Vorschriften“.
Umgekehrt des Beispiels halber spricht das Einführungsgesetz
vom 5. Juli 1869 $ 2 ausdrücklich die Ergänzungsfähigkeit der
Wechselordnung und des Handelsgesetzbuches aus. Hier findet denn
® 8. Binding, Handb. des Strafrechtes $$ 64—70.
+8. Wach, Civilprozefsrecht $ 16. Löwe, Strafprozefsordnung zum
Eg. 8 6.