272 II. Buch. Die Reichsgewalt.
staatlichen Natur des Reiches dem (irundsatze Raum gelassen werden,
dals den Einzelstaaten auch innerhalb der Kompetenzsphäre der Reichs-
gesetzgebung eine bestimmte Zwischenstellung und Mitwirkung beizu-
messen ist. Die Frage daher nach der Existenz, dem Umfange und
der Natur eines Verordnungsrechtes des Reiches kann schlechterdings
nicht durch Analogieen, die der Struktur und dem herkömmlichen
Staatsrechte des Einheits- oder des Einzelstaates entnommen sind, ge-
löst werden, sondern sie muls ausschlielslich aus der Analyse der ein-
schlagenden Bestimmungen der Reichsverfassung selbst beantwortet
werden.
Auch unter diesem Gesichtspunkte stehen sich zwei Bestandteile
der R.V. in charakteristischem Unterschiede gegenüber. Der eine wird
gebildet durch diejenigen Abschnitte (I bis V, XII, XIV), welche die
allgemeinen Grundsätze für die Organisation, die Funktionen und die
Aufgaben des Reiches feststellen, der andere Bestandteil befalst die
anderen Abschnitte, welche einzelne Verwaltungszweige einer be-
sonderen Ordnung unterziehen.
Diese letzteren, die „besonderen“ Abschnitte der Reichsver-
fassung, beziehen sich auf
das Zoll- und Handelswesen — VI —,
das Eisenbahnwesen — VII —,
das Post- und Telegraphenwesen — VII —,
die Marine und Schiffahrt — IX —,
das Konsulatswesen — X —,
das Reichs-Kriegswesen — XI —.
Für alle diese Verwaltungszweige® werden dem Reiche Verord-
nungsrechte beigelegt. Die einschlagenden Bestimmungen müssen darum
auf die dreifache Frage Antwort geben: in welcher Weise grenzt sich
der Bereich der Verordnung von dem Bereiche der Gesetzgebung ab,
welchen Organen steht das. Verordnungsrecht zu, in welchen Formen
und darum mit welcher Rechtswirkung wird dasselbe ausgeübt?
®2 Auf einer vollkommenen Verkennung der besonderen Stellung des
Verordnungsrechtes im zusammengesetzten Staate, auf einer falschen Über-
tragung einer falschen Doktrin über das Verordnungsrecht im Einheits-, über-
dies im monarchischen Einheitsstaate beruht die Abhandlung Zorns „Zu
der Streitfrage über Gesetz und Verordnung nach deutschem Reichsstaatsrecht“
— Hirths Annalen 1885 S. 301 ff. —. Sie ist bereits endgültig widerlegt durch
Arndt, Steht dem Bundesrat des deutschen Reiches ein selbständiges Ver-
ordnungsrecht zu? — ebenda 8. 701ff. —.
® Nur die Specialbestimmungen für das Konsulatswesen berühren das
Verordnungsrecht nicht.