$ 50. Umfang, Mafsstab und Grenzen der Beaufsichtigung. 305
Diese Verpflichtungen sind daher doppelter Art.
Sie heischen entweder den passiven Gehorsam der Einzel-
staaten, der sie verpflichtet, nichts zu thun und alles zu unterlassen,
was mit dem objektiven Reichsrecht, aber auch mit den hierdurch be-
gründeten subjektiven Rechten, sei es des Reiches und seiner Unter-
thanen, aber auch Dritter, in Widerspruch steht.
Oder es sind Verpflichtungen der Einzelstaaten zum positiven
Handeln, zur Handhabung ihrer Staatsgewalt, um die Vorschriften des
Reichsrechtes zur Anwendung zu bringen und die von demselben ge-
wollten Erfolge zu erzielen. Und weiterhin fällt diese aus- und
durchführende Thätigkeit nicht ausschliefslich der vollziehenden Gewalt
anheim; sie kann nach näherer Malsgabe der auszuführenden Be-
stimmungen auch Akte der Gesetzgebung oder des Verordnungsrechtes
als Pflicht der Einzelstaaten befassen ?.
2. Aber die Befugnis des Reiches ist hierauf nicht beschränkt.
In charakteristischer Weise stellt die Satzfügung der R.V. a. 4 die
„Beaufsichtigung“ der „Gesetzgebung“ voran®. Das Wort „Gesetz-
gebung“ bedeutet fernerhin nicht den Inbegriff der erlassenen Reichs-
gesetze, sondern das Recht zur Gesetzgebung. Und so bezieht sich
die „Beaufsichtigung seitens des Reiches“ ohne weiteres auf die „nach-
stehenden Angelegenheiten“. Das heilst, sie ist wirksam bereits vor
der Ausübung der Reichsgesetzgebung.
Das ist denn auch in der Praxis zu unbestrittener Anerkennung
gelangt. Das Hauptbeispiel hierfür bildet die Beaufsichtigung des
Auswanderungswesens, welche auf Grund des Bundesratsbeschlusses
vom 11. Juli 1868 durch einen ständigen Bundeskommissar gehand-
habt wird.
Selbstverständlich bedarf es auch hierbei des objektivrechtlichen
Malsstabes, an welchem sich die Rechte und Pflichten des Reiches und
der Einzelstaaten bemessen. Aber dieser kann nach Lage der Sache
kein anderer sein als das rechtsgültig bestehende Partikularrecht,
mag dasselbe auf Gesetz oder Gewohnheitsrecht, auf Rechtsverord-
nungen oder Verträgen, insbesondere auf Verträgen der Einzelstaaten
untereinander beruhen *.
2 Unter welchen Voraussetzungen das letztere stattfindet, hat die Be-
trachtung des Verhältnisses der Gesetzgebung und der Verordnungsgewalt des
Reiches zu den gleichen Rechten der Einzelstaaten ergeben.
® 8. Schwarze, Konstituierender Reichstag, Sten. Ber. S. 315.
* Der preufsische Entwurf der norddeutschen Verfassung brachte dies zu
voller Deutlichkeit. Nach a. 4: „Der Gesetzgebung des Bundes unterliegen:
Binding. Handbuch. Y. 1: Hänel, Staatsrecht. 1. 20