348 II. Buch. Die Reichsgewalt.
oder dals sie durch Personalunion die abgewogenen Bundesrats-
stimmen in einer Hand kumulieren ®, oder dals ein Einzelstaat sich in
mehrere Einzelstaaten zerlegt, oder auch nur dadurch, dafs solche Ge-
bietsabtretungen oder solche „Accessionen“ ” des einen an den andern
Einzelstaat erfolgen, welche als wesentliche Umgestaltung ihrer
historisch -politischen Individualität, mithin des verfassungsmälsigen
Mafsstabes der Stimmgewichtsverteilung im Bundesrat geschätzt werden
müssen °.
Alle solche Verfügungen greifen in den verfassungsmälsigen Organis-
mus des Reiches ein und sie unterliegen deshalb der Organisations-
gewalt des Reiches. Das heilst, sie können nur von Reichs wegen
und zwar in der Form der Verfassungsänderung vorgenommen werden.
Aber allerdings — die Unterwerfung unter die ÖOrganisations-
gewalt findet nur statt insofern und insoweit, als die Rechtshandlungen
der Einzelstaaten ihre Mitgliedschaftsrechte und -pflichten ergreifen
und deshalb rechtliche Wirksamkeit segenüber dem Reiche ihrer
eigenen Absicht nach gewinnen sollen und beziehungsweise nach Mals-
gabe der Reichsverfassung gewinnen müssen. Gerade darum sind
diese Rechtshandlungen der Einzelstaaten, vorausgesetzt, dals sie den
Anforderungen des Landesrechtes entsprechen und einem besonderen
Verbotsgesetze des Reiches nicht widersprechen, keineswegs schlechthin
nichtig. Im Gegenteile — dieselben bilden erst den Rechtsgrund, auf
welchen hin das Reich überhaupt rechtlich in der Lage und berufen
ist, die durch seine Verfassung geforderten mitgliedschaftlichen Regu-
lierungen vorzunehmen®. Und zwar befindet sich das Reich hierbei
in einer verschieden abgestuften Rechtsstellung.
Sind die auf die einzelstaatliche Mitgliedschaft hinzielenden Ver-
6 Für das in der Reichsverfassung abgewogene Stimmgewicht im Bundes-
rate ist es vollkommen gleichgültig, auf welchem Rechtsgrunde unter den
beteiligten Einzelstaaten, ob auf Verschmelzung, Real- oder Personalunion, die
Kumulation der Stimmen in der Hand ein und desselben Vollmachtgebers
beruht.
? Mit Recht betonte der Reichskanzler in der Debatte des preufsischen
Abgeordnetenhauses vom 11. Dez. 1867 — Sten. Ber. S. 338 — über den ersten
Accessionsvertrag mit Waldeck, der die äufsere Vertretung in der Hand des
Fürsten beläfst, dafs derselbe die äulserste Grenze dessen bildet, was ohne
Eingreifen der Reichsgesetzgebung ınöglich ist.
8 Dals darunter Grenzregulierungen, Aufteilungen von Kommunionen
nicht fallen, liegt auf der Hand.
° Die Folgerung Labands, Staatsrecht d. deutschen Reiches I 121, dafs
die Reichsverfassung, wenn sie Verschmelzungen oder Zersplitterungen der
Einzelstaaten an die Mitwirkung des Reiches bindet, dadurch darauf hinzielende
Thronfolgerechte aufgehoben habe, ist unschlüssig.