440 II. Buch. Die Reichsgewalt.
wird durch den Umstand verstärkt, dafs der Kaiser ausschliel[s-
lich zur Verkündigung des Kriegszustandes berechtigt
ist. Dem Landesherrn steht ein gleiches Recht kraft früherer oder
noch zu erlassender Partikulargesetze nicht mehr zu. Denn das, was
die speeifische Natur des Kriegs- oder Belagerungszustandes ausmacht,
ist die Übertragung aufserordentlicher Dienstbefugnisse an die Militär-
befehlshaber und die Ermächtigung zur Außerkraftsetzung solcher Ge-
setze, die zu ihrem überwiegenden Teile Reichsgesetze geworden
sind!®. Wie aber die Wirksamkeit der Reichsgesetze, so kann auch
der auf der Militärgesetzgebung des Reiches im Sinne der R.V. a. 61
beruhende Wirkungskreis der militärischen Befehlshabung weder durch
eine partikularrechtliche Norm, noch durch aufserordentliche Malsregeln
partikularer Instanzen aufgehoben oder modifiziert werden, wenn nicht
kraft ausdrücklicher Bestimmung der Reichsgesetze hierzu die Ermäch-
tigung gegeben ist, eine Ermächtigung, die für den Kriegs- oder Be-
lagerungszustand nicht besteht !?.
18 So sind insbesondere an die Stelle der den aa. 5. 6. 29. 30 der preulsi-
schen Verfassungsurkunde entsprechenden partikularen Gesetze die deutsche
Strafprozelsordnung I. Buch, 8. u. 9. Abschnitt, und das Reichsprefsgesetz vom
7. Juni 1874 getreten.
19 G. Meyer — Verwaltungsrecht I 184, Hirths Annalen 1880 S. 347 ff.
in Anlehnung an die dort eitierten Thudichum, v. Mohl, v. Rönne —
behauptet, dafs die Regierungen der Einzelstaaten nach Mafsgabe der
Landesgesetze (k. sächsisches Gesetz vom 10. Mai 1851 88 13 ff., badische
Gesetze über den Kriegszustand und das Standrecht vom 29. Januar
1851) befugt bleiben, den Belagerungs- oder Kriegszustand zu verkündigen.
Demgegenüber sind die Ausführungen Labands, Staatsrecht II 541 ff,, mit
denen nsbesondere Brockhaus, Das deutsche Heer S. 73 ff, Seydel, Zeit-
schrift f. d. R. VII 619 ff., Zorn, Staatsr. d.d.R. [313 ff, Bornhak, Preufs.
Staatsr. III 131. 132 übereinstimmen, in allen Punkten aufrecht zu erhalten.
Unbestritten ist es, dafs landesgesetzliche Bestimmungen, welche unter
aufserordentlichen Verhältnissen den Landesregierungen aufserordentliche Voll-
machten erteilen, soweit fortbestehen, als dieselben sich innerhalb der Kom-
petenz der Einzelstaaten bewegen. Nur jede Modifikation oder Suspension
von Reichsnormen und jeder Eingriff in gesetzmäfsige Reichsfunktionen ist
auch unter dem Titel des Belagerungs- oder Kriegszustandes schlechterdings
unstatthaft, vorausgesetzt, dafs nicht die Reichsgesetze selbst hierzu eine aus-
drückliche Ermächtigung erteilen. Daher ist es z. B. zweifellos, dafs dem
preufsischen Staatsministerium die Suspension der Artikel der preufsischen
Verfassung. aufserhalb des Belagerungszustandes und nach Mafsgabe des
preufsischen Gesetzes vom 4. Juni 1851 $ 16, auch jetzt noch zusteht, aber
nur insofern dadurch lediglich die entsprechenden preufsischen Gesetze und
kraft der ausdrücklichen Ermächtigung des $ 30 des Reichsprefsgesetzes vom
7. Mai 1874 dieses Reichsgesetz betroffen wird.
Aber hierdurch wird der Streitpunkt über den Kriegs- oder Belagerungs-